Einschätzung der Lage in Berlin (West)

Mitteilung von Franz Amrehn (CDU) an den Bundesminister des Auswärtigen Herrn Dr. Heinrich von Brentano, datiert: 12. September 1961.

Wasserwerfer der Kampftruppen der DDR am Brandenburger Tor am 13. August 1961

Sowjetzonaler Wasserwerfer der Kampftruppen der DDR am Brandenburger Tor im Kampf gegen West- Berliner Demonstranten. Foto: Arved Raabe, Berlin (13.08.1961)

 

Die am Brandenburger Tor eingesetzten Kampfgruppen vertreiben mit Wasserwerfern die gegen die Absperrmaßnahmen demonstrierenden West-Berliner.

Bericht (Streng vertraulich):

Der 13. August hat zur Folge ...

1)

Tiefe Erschütterung im politischen Bewusstsein aller Deutschen, und zwar der Zonenbewohner, weil sie über ein Jahrzehnt zum Ausharren aufgefordert und durch die Möglichkeit eines Besuchs in West-Berlin immer wieder von Hoffnung getragen, völlig unerwartet eingesperrt sind, der Berliner, weil die über die bestehende Verwaltungstrennung hinweg wirksam gebliebenen Arbeitsverhältnisse und menschlichen, vielfach familiären Beziehungen auseinandergerissen worden sind, Begegnungen nicht mehr stattfinden können und durch die Mauer für unabsehbare Zeit zwei Städte Berlin geschaffen worden sind, der Bewohner der Bundesrepublik, weil die schon erheblich geschwächte Aussicht auf Wiedererlangung der Einheit einen entscheidenden Stoß erlitten hat, der durch die Zuspitzung der Lage das Wohlstandsdenken überraschend in den Hintergrund gerückt und neben einem Gefühl nationaler Mitverantwortung auch ernste Besorgnisse für das westliche Deutschland ausgelöst hat.

2)

Beendigung der bisherigen Funktion Gesamt-Berlins als offener, noch viermächtegebundener Rest-Bestandteil des Deutschen Reiches, der durch seine bloße Existenz die Verpflichtung zur Lösung der deutschen Frage wachgehalten und die Keimzelle zur Überwindung der Teilung gebildet hat.

Schließung des Schaufensters Westberlin, das im Wettbewerb mit dem kommunistischen System dessen überzeugendste Widerlegung und die beste Rechtfertigung der freien Entfaltung auf dem Boden ungehinderter Meinungsäußerung, sozialer Marktwirtschaft und politischer Selbstbestimmung gewesen ist.

3)

Vorverlegung des Eisernen Vorhangs vor Ostsektor und Zone, die wegen der bisherigen Funktion Berlins noch nicht dahinterlagen und von Enttäuschung und Verzweiflung erst jetzt gepackt werden, seit die Bewohner keine Fahrt mehr durch das Brandenburger Tor, keine Reise mehr nach dem Westen machen und kein Schlupfloch mehr finden können.

4)

Vertrauensminderung, denn der Westen hat trotz der Betonung zunehmender Entschlossenheit die Losreißung Ost-Berlins und die Einverleibung in die Zone nicht verhindert, ja sogar seine eigenen Zugangsrechte an etwa 80 Übergängen auf einen einzigen verkümmern lassen. Der freie Verkehr in Berlin und die freie Arbeitsplatzwahl gehörten noch 1960 als Bestandteile des Viermächterechts zu den „wesentlichen Bedingungen” einer Vereinbarung mit der Sowjetunion, die durch ihr Vorgehen solche Absichten praktisch vereitelt hat. Dadurch hat der Westen trotz gegenteiliger Behauptungen rechtlich und tatsächlich Terrain verloren. Er hat wieder eine Schlappe erlitten. Sie kündigte sich bereits in dem großen Flüchtlingsstrom an. So gewiss er von dem Sowjetregime verursacht worden ist, so richtig bleibt doch, dass die wachsende Zahl von Flüchtlingen eben kein Vertrauen mehr zu der Macht des Westens besaß, die totale Schließung der 16 Jahre lang offen gewesenen Sektorengrenze zu verhindern.

 

Ursachen:

Die Ereignisse vom 13. August 1961 sind eine Folge der Spaltung, die bereits 1948 stattgefunden hat. Damals haben die Westmächte noch unter anderen Machtverhältnissen ohne Gegenwehr geduldet, dass das freigewählte Stadtparlament nicht mehr im Ostsektor an seinem Sitz tagen durfte und dass die Verwaltung mit Gewalt gegen alles Recht gespalten wurde. Sie haben nach dem Grundsatz gehandelt, dass in den unmittelbaren Machtbereich der Sowjets nicht mit den Mitteln der Macht hineingewirkt werden darf, um einen Konflikt zu vermeiden. Das galt auch beim Aufstand im Juni 1953 und nicht minder für Ungarn im November 1956.

Der Westen beschränkte sich auf die Verteidigung eines unmittelbaren Machtbereichs. Er nahm die faktische Teilung Deutschlands hin und beschränkte sich auf papierene Rechte Verwahrungen. (Harriman 1961 zu Brandt: Wir haben in Potsdam gewusst, dass die Sowjets nicht mehr herausgeben, was sie haben. ) Damit geriet er in eine geistige Verfassung des Maginotlinien-Denkens, das politisch von Nachgiebigkeit zu Nachgiebigkeit führt:

1) Nach der Blockade wurde der zivile Verkehr zu Lande völlig den deutschen Behörden überlassen. Der Westen hat sich niemals um eine der früher zahlreichen Beschlagnahmen oder um eine der Hunderte von Verhaftungen auf den von ihm ausgehandelten und 1949 bestätigten „freien” Zugängen gekümmert.

2) Widerstandslos wurde die Beschränkung des freien Zugangs durch die Einführung und 1955 durch die exorbitante Erhöhung der Autobahngebühr hingenommen.

3) Nichts regte sich, als die Schifffahrtsgebühr eingeführt wurde.

4) In Genf konnte Herter 1959 sagen, man sei nicht in der Lage, den separaten Friedensvertrag zu verhindern, wenn nur die westlichen Rechte gewahrt würden. Das war keine offensive Diplomatie, sondern eine resignierende Einladung zur Schaffung der Staatsgrenze. In Deutschland fanden sich viele mit dieser Ansicht unter dem Druck des Ultimatums ab.

5) Auf die Behinderung des Verkehrs zwischen West- und Ost-Berlin durch Einführung eines Erlaubnisscheins am Brandenburger Tor im September 1959 reagierten die USA durch Aufforderung an die Bundesrepublik zu harter Haltung und durch die Empfehlung zur Kündigung des Interzonenhandels, ohne nachher ihre eigene Maßnahme der Sperre von Reisepapieren durchzuhalten. Sie haben die rechtswidrige östliche Verordnung niemals zu Fall gebracht und schließlich indirekt uns die Verantwortung zugeschoben, weil der Interzonenhandel fortgesetzt wurde. Von dem Verbot für West-Berliner, den Bundespass zu Reisen durch die Zone und in östliche Staaten zu benutzen, ist überhaupt keine Rede mehr.

6) Ohne gegen die faktische Bildung eines Regierungssitzes in Ost-Berlin anzugehen, haben sie die Verschiedenheit der Stellung des westlichen Berlin, das in keiner Weise zum Bund gehören darf, zum östlichen Berlin in dieser Beziehung immer größer werden lassen. Sie haben auf die Androhung verzichtet, im Falle der rechtswidrigen Einbeziehung Ost-Berlins in die Zone ihre Berlin-Vorbehalte gegen das Grundgesetz aufzuheben. Damit ist der Zustand eingetreten, dass es heute ein Undefiniertes drittes Staatsfragment „West-Berlin” gibt.

7) Die Beschränkung der Flughöhe in den Korridoren ist praktisch hingenommen worden.

8) Zuletzt ist die Haltung in der Grenzgängerfrage, die schon am 1. August durch die Anordnung über die Zahlung von Mieten und Gebühren des Ostens in Westgeld eine Zuspitzung erfuhr und zu einer Erpressung an der Lohnausgleichskasse führte, so schlapp gewesen, dass der Osten sich zu weiteren Akten angespornt fühlen konnte.

9) Jetzt ist die Entscheidung der Westmächte über die Bezahlung der Eisenbahner so passiv ausgefallen, dass der Senat gegen seinen Willen nach dem Wegfall der Grundlage für den Lohnumtausch die Löhne bis zu 40% aus seinem Haushalt für ein Unternehmen zahlen muss, das entgegen den alliierten Währungsbestimmungen seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommt, obwohl es volle Westgeldeinnahmen für die im Westen verkauften Fahrkarten hat.

10) Als Fazit lässt sich feststellen, dass der Westen von den ohnehin beschränkten Möglichkeiten eines gewissen Spielraums für diplomatische und wirtschaftliche Gegenmaßnahmen aus Sorge vor Verwicklungen keinen Gebrauch zu machen gewagt hat, abgesehen von den jüngsten Noten über die Luftkorridore, deren Bedrohung allerdings unmittelbar an den Lebensnerv Berlins geht.

11) Diese Entwicklung ist nur eingetreten, weil es dem Westen an einer widerstandsfesten und offensiven, fordernden, hartnäckigen, innerlich überzeugten Deutschlandpolitik gefehlt hat.

Sonst hätte der Westen, der doch Gesamtverantwortung für ganz Deutschland trägt, die ganze gesellschaftliche Strukturveränderung der Zone, die dort verübten Verbrechen, die Militarisierung Ost-Berlins, den Wahlbetrug, die Verhaftungen auf den Autobahnen, die Flüchtlingsbewegung nicht hingenommen, ohne weltweiten Alarm zu schlagen und ohne nichtmilitärische Gegenmaßnahmen auch nur zu erwägen.

Der Westen hat sich aus seiner Gesamtverantwortung für Deutschland herausdrängen lassen, weil es - trotz aller Noten, die das Gegenteil besagen - an dem wirklichen Willen zur Einheit Deutschlands mindestens teilweise gefehlt hat und die öffentliche Meinung auch in befreundeten Ländern dafür noch nicht tiefgehend genug zu gewinnen war. Ginge es danach, kann leider auch nicht damit gerechnet werden, dass alle Bündnispartner für ein überfallenes West-Berlin kämpfen. Innerlich hat sich mancher erleichtert gefühlt, dass mit der Schließung der Grenzen in Berlin der Flüchtlingsstrom beendet war und daraus kein Konflikt mehr erwachsen konnte - ohne sich zu vergegenwärtigen, dass der nächste Schlag bei solcher Einstellung schon bald folgen würde.

Der Riss zwischen Deutschen und Westalliierten nach dem 13. August ist dadurch entstanden, dass die Deutschen ganz natürlich eine Gegenmaßnahme gefühlsmäßig und politisch erwartet haben, während die Verbündeten von vornherein, folgerichtig an die Haltung seit 1948 anknüpfend, eine Gegenmaßnahme für einen solchen Fall überhaupt nicht in Betracht zu ziehen gewillt waren.

 

Stimmung in West-Berlin:

Ohne dass sich jeder West-Berliner über diese Entwicklung im Einzelnen Rechenschaft ablegen kann, fühlt er instinktiv, dass der Westen in der Berliner-Frage nicht nur defensiv eingestellt ist, sondern sich weitgehend als ohnmächtig betrachtet.

Noch niemals seit dem Kriegsende hat es in Berlin wie jetzt eine zwar nicht offen zu Tage tretende, aber allüberall feststellbare Unruhe gegeben, die vom kleinen Mann bis zu hochgestellten Personen durch alle Familien geht und von Zweifeln erfüllt ist, ob die Westmächte wenigstens einen Luftkorridor unkontrolliert gewährleisten können. Mancher verantwortlich denkende Mann glaubt auch daran nicht mehr und baut in Berlin ab oder doch in der Bundesrepublik schon vor. Die Frage in einem Betrieb, wie viel den Umzug nach dem Westen mitmachen würden, ist gegen alle früheren Erfahrungen von einem großen Teil der Belegschaft bejaht worden.

 

Blatt 6 ausgefallen. - 7 -

 

Beurteilung der deutschen Politik:

Es kann danach nicht ausbleiben, dass auch der Weg der deutschen Politik einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Sie hat uns ihrem eigentlichen Ziel sachlich gewiss nicht näher gebracht. Das muss nicht an ihr liegen, sondern an den wider Erwarten stärker gewordenen Gegenkräften. Aber sie hat auch die Verbündeten nicht zu entschlossenerem Handeln in Berlin bringen können. Die Politik des Nichtverhandelns hat uns weder vor der Mauer bewahrt noch durch Zeitgewinn auch nur die frühere Position behaupten lassen. Diese ist seit November 1958 weiter abgebröckelt und noch mehr gefährdet. Es gibt keinen Status quo mehr. Er verändert sich fast ständig zur Minusseite.

Noch Anfang Juli habe ich dem Bundeskanzler gesagt, dass es falsch wäre, die Androhung eines separaten Friedensvertrages als unabänderlich über sich ergehen zu lassen, sondern dass es Ziel westlicher Politik bleibe, ihn zu verhindern.

Der Gedanke einer 50-Mächte-Friedenskonferenz mag wenig Aussicht auf materiellen Erfolg bieten; als taktisches Mittel hätte er die Möglichkeit geboten, den Osten psychologisch in die Defensive zu bringen und vielleicht nochmals Zeit zu gewinnen.

Auch nur die Ankündigung einer solchen Möglichkeit hätte den Flüchtlingsstrom vermutlich noch in Grenzen gehalten und die Vorverlegung von östlichen Entscheidungen vermieden. Überall hat jedoch das Datum vom 17. September für Ideen und Aktionen lähmend gewirkt und damit Ereignisse heraufbeschworen, die einer Teilverwirklichung des Separat-Vertrages gleichkommen. So konnte es geschehen, dass die Zone ausgerechnet in einem Augenblick größter innerer politischer und wirtschaftlicher Schwäche zur Verhinderung von Auflösungserscheinungen einen Gewaltakt vollzog, der für sie den bisher größten Triumph - auch für die Stellung im Ostblock - bedeutet und zu weiterer Aktivität ermuntert.

Die psychologische Intervention in West-Berlin hat begonnen: Ulbricht fordert die West-Berliner durch Rundfunk auf, die Abenteurer im Senat abzusetzen, und spricht von der Mausefalle West-Berlin; von Schnitzler erklärt im Fernsehen, die Bundesflagge habe die längste Zeit hier geweht und Minister Lemmer die längste Zeit sein Amt hier ausgeübt.

 

 

Schlussfolgerungen:

Aus dieser Darlegung ergeben sich für die Zukunft Verhaltensweisen, die in ihrer Richtung von der Grundhaltung des Westens abhängen. Ich möchte deswegen die Schlussfolgerungen danach einteilen, wie ich sie wünschte (A) und wie ich sie befürchte (B).

(A).

1) Die Freiheit des westlichen Berlin kann auf lange Sicht nur dadurch gewahrt werden, dass der Westen von jetzt an keinen Millimeter mehr an Rechtseinbusse oder Einschnürungsmaßnahme duldet, ohne sofort nichtmilitärische Druckmittel gegen die Sowjetunion und den Ostblock anzuwenden. Die Möglichkeiten wirtschaftlichen Gegendrucks sind bereits im Vorfeld der eigentlichen Entscheidung anzuwenden und nicht erst, wenn bereits auch an militärisches Eingreifen gedacht wird.

In der Hoffnung und Annahme, dass die Sowjetunion vor der Störung der Luftkorridore im Hinblick auf die ernste Warnung des Westens doch zurückschreckt, müssten auf Behinderungen der Zugangswege in der indirekten Form beispielsweise der Gebührenerhöhung oder der langsamen Abfertigung bereits die Reaktionen eintreten, die erst für noch ernstere Ereignisse erarbeitet werden.

2) Der Westen hat seine Abwehrplanung bisher streng geheim gehalten. Das hat zur Folge, dass die andere Seite entweder nicht an die Vorbereitung einer solchen Abwehr glaubt oder nicht von der Anwendung der Maßnahmen überzeugt ist. Ein entscheidendes Ziel der gegenwärtigen Diplomatie besteht darin, dem Chef im Kreml die Ernsthaftigkeit der westlichen Entschlossenheit nahezubringen. Das ist bisher misslungen, weil niemand glauben kann, dass es über Berlin zum Atom-Krieg kommt und es zum anderen zu wirklichen Reaktionen in dem Spielraum zwischen der Erhaltung des Status quo und der Kriegsdrohung nicht gekommen ist. Deshalb hat die Anwendung von wirtschaftlichen oder anderen nichtmilitärischen Gegenmaßnahmen im Vorfeld der Entscheidung über die Erhaltung der Lebensfähigkeit West-Berlins den Vorzug, dass der Osten an den konkreten Abwehrwillen des Westens zu glauben beginnt.

Das kann umso wirksamer geschehen, je offener solche Entschlossenheit vorher bekannt gemacht wird, wie es jetzt in der Frage der Luftkorridore geschehen ist. Aber auch für weniger entzündliche Punkte würde volle Klarheit besser als Geheimhaltung - die natürlich für die Einzelheiten des Vorgehens weiter gewahrt bleiben muss - die Gefahr der Fehleinschätzung westlichen Verhaltens verringern.

3) Die Aufforderung zu Verhandlungen kann nur den Charakter haben,

a) durch ein Gespräch den Sowjets zu verdeutlichen,
dass sie mit ihrem bisherigen Vorgehen fortgesetzter einseitiger Veränderung des Berlin-Status die äußerste Grenze erreicht haben und weitere Aktionen nicht mehr hingenommen werden,

b) aus der bisherigen Entwicklung den Entschluss abzuleiten, dass über West-Berlin nichts mehr zu verhandeln übrig geblieben ist und dass das westliche Besatzungsregime in der gegenwärtigen Form aufrecht erhalten wird, bis die Sowjet-Union sich zu einer Verhandlung über ganz Deutschland bereitfindet.

Der schon 1959 so gefährliche Gedanke an Interimsregelungen muss ausscheiden, weil jedes Interim nur als Schonfrist angesehen würde und den freiwilligen Abbau der wirtschaftlichen Positionen und vieler persönlicher Bindungen an Berlin zur Folge haben müsste.

4) Diese volle Entschlossenheit des Westens, sich nichts mehr abhandeln zu lassen und keine einseitigen Minderungen seiner und unserer Rechte und Freiheiten mehr hinzunehmen, verschärft zweifelsfrei die Gefahr eines Kriegsausbruches. Diese Gefahr ist jedoch für die Sowjetunion nicht geringer als für die anderen. Ihr Interesse an einem Konflikt bleibt auch für sie durch die Rücksicht auf den eigenen Fortbestand und die Erhaltung der gegenwärtigen Substanz begrenzt. Sie hat ihre bisherigen Erfolge nur dadurch erreichen können, dass der Westen auf jedes Vordringen der Sowjetunion mit dem Argument untätig geblieben ist, dass deswegen kein Atomkrieg geführt werden könne. So richtig das ist, so sicher führt diese Einstellung zum allmählichen Verlust Berlins und weiterer Positionen des Westens.

Umgekehrt kann nur der massive Widerstandswille des Westens auch gegen eine stückweise Verkürzung der Berlin-Position dem Kreml das Risiko seines Vorgehens klarmachen und ihn von der anscheinend vorhandenen Meinung abbringen, dass er in Berlin bereits gewonnen habe.

5) Diese in jeder Beziehung intransigente Haltung des Westens ist für absehbare Zeit der einzige Weg, entgegen der bisherigen Entwicklung das Thema der größten internationalen Nachkriegsspannung sich nicht endgültig auf West-Berlin und auf die Bildung eines dritten Staatsfragments einengen zu lassen, sondern zur Deutschland-Frage zurückzuschalten, die dadurch zwar noch nicht gelöst ist, aber doch nicht von der Tagesordnung gebracht werden kann, ohne dass neue Wege für Lösungsmöglichkeiten zur Erörterung gestellt werden.

Diese Hoffnung braucht nicht aufgegeben zu werden, weil auch die Sowjetunion kein Interesse am Atomkonflikt oder daran haben kann, um jeden Preis ein Satellitenregime künstlich am Leben zu erhalten, dessen innere Brüchigkeit ihr gewiss nicht verborgen geblieben ist. Allerdings bleibt die Frage im Augenblick noch unbeantwortet, welches internationale Interesse der Sowjetunion vorteilhafter erscheinen kann als das Interesse an der Erhaltung des kommunistischen Zonenregimes. Dies wiederum hängt nicht allein von den Deutschen ab, die auch selbst nicht den Schlüssel für die Beantwortung der entscheidenden Frage in der Hand haben, von welchem Punkt an die Amerikaner ihre eigene Existenz so gefährdet sehen, dass sie das Risiko des Konflikts eingehen. Das muss ihnen überlassen bleiben. Aber die Berliner und die Deutschen haben andererseits ein Recht darauf, in dem Vorfeld dieser Entscheidung - gewiss von keinem Bündnispartner gewollt, indes allmählich in kleinen Raten und am Ende unvermeidlich - nicht selbst geopfert zu werden.

 

(B) Niemand will den Atomkrieg.

Noch weniger will ihn jemand um Berlin ausbrechen lassen.

Die Aufforderung und Bereitschaft zu letzter Entschlossenheit soll schließlich, selbst wenn es zur Anwendung militärischer Mittel kommt, nicht zur atomaren Auseinandersetzung führen, sondern nur das Maß von Nervenstärke bewirken, das dem Gegner nicht nachsteht. Aber das ist ein sehr hohes Risiko.

So wichtig Berlin für den Westen auch ist, so wenig sicher ist doch, ob für Berlin ein gleich hohes Risiko wie für London, Paris oder New York eingegangen wird. Das mag von den verschiedenen Verbündeten auch verschieden beurteilt werden. Bei den Neutralen will niemand ein solches Risiko für Berlin laufen. (Nehru am 11.9.: „Es wäre phantastisch”) Sie wirken entsprechend auf die Verbündeten ein und fordern sie zur Kompromissbereitschaft auf. Ein Teil der NATO-Verbündeten will das Risiko trotz aller Grundsatzfestigkeit doch nur begrenzt eingehen. Ist der Westen zu einer so entschlossenen und aktiven Politik wie unter A nicht zu gewinnen, dann ist unvermeidlich, dass ihm jeder Kompromiss über Berlin mehr erwünscht erscheint, als die Krise auch nur in die Nähe eines militärischen Konfliktes zu bringen. Der Konflikt selbst würde Berlin schließlich nicht unversehrt lassen.

Dazu kommt, dass die Frage des Konfliktes voraussichtlich nicht im Zusammenhang mit einer östlichen Aggression gestellt wird, sondern auf jeder weiteren Stufe der Einschnürung West-Berlins stets nur einem relativ kleinen Schritt östlichen Vordringens begegnet, zum Beispiel:

dem Stempel auf dem Reisepapier, der Forderung auf Anmeldung der Flugzeuge bei den Zonenfunkstellen, dem Verlangen nach Aufnahme von Gesprächen mit dem Zonen-Außenministerium, wenn die zurzeit in der Zone sich aufhaltenden Italiener, Belgier, Schweizer sich wieder frei bewegen wollen, und dann stets verneint werden wird.

Danach stellt sich bald die Frage der Anerkennung, die schon jetzt von dem größten Teil der englischen Presse gefordert wird, um einen Konflikt zu verhüten und Berlin weiter das Leben fristen zu lassen.

11) Unter der Voraussetzung der Schaffung von rechtlichen Grundlagen dieser Art ließe sich dann auch darüber reden, ob nicht deutsche technische Kommissionen im Auftrage der Vier - wie es schon im Juni 1949 vorgesehen war - oder in Erfüllung eines stets nur zusätzlich oder ergänzend gedachten UN-Auftrages Fragen des Personen- und Warenverkehrs und andere technische Fragen zwischen West- und Ost-Berlin (vielleicht auch wie bei der Eisenbahn und im Handelsverkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands) erörtern.

12) Die früheren westlichen Vorschläge für die Tätigkeit von Vier-Mächte-Organen für Streitigkeiten oder eines UNO-Vertreters für die Beobachtung der Öffentlichkeitsarbeit sollten weiterverfolgt werden.

 

Schlussbemerkung:

Diese Erwägungen enthalten mehrere Gefahrenpunkte. Aber sie entspringen nicht der Ansicht, dass sie im Ganzen für gut gehalten werden, sondern dass sich nach der bisherigen Entwicklung kaum mit einer radikalen Kursänderung rechnen lässt und schlimmere Ergebnisse verhütet werden müssen.

Angesichts der inneren Stimmung des westlichen Berlin muss es bald zu Entscheidungen kommen, bevor die schon jetzt sichtbaren Einbussen an Vertrauen und damit an Standhaftigkeit größere Ausmaße annehmen. Die Entscheidungen müssen so aussehen, dass sie auch und vor allem in den Einzelheiten dem Berliner das Gefühl voller Sicherheit und der offenen Tür zurückgeben.


Quelle: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bestand B01, Band 123, Seite 1-15.