Denkschrift des Kuratoriums UNTEILBARES DEUTSCHLAND

 

Eine Delegation des Kuratoriums UNTEILBARES DEUTSCHLAND übergab der Menschenrechtskommission am 25. September 1962 eine Beschwerde wegen der Verletzung der Menschenrechte seit der Errichtung der Berliner Mauer. In der Denkschrift hieß es u. a.:

 

An den Vorsitzenden der Menschenrechtskommission bei den Vereinten Nationen

 

Das Kuratorium UNTEILBARES DEUTSCHLAND erhebt im Namen der Deutschen in Ost-Berlin und in der sowjetisch besetzten Zone, die nicht für sich sprechen können, Anklage gegen ständige schwerste Verletzungen ihrer elementaren Rechte auf Leben und Freiheit, auf Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit, wie sie in den Artikeln der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" formuliert sind.

Das Kuratorium UNTEILBARES DEUTSCHLAND bittet die Mitglieder der Menschenrechtskommission im Namen aller Deutschen festzustellen, daß die unmenschlichen Zustände in der sowjetisch besetzten Zone und in Ost-Berlin eine permanente Verletzung der Menschenrechte bedeuten, daß Deutsche, die im sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands, einschließlich Ost-Berlin, wohnen, daran gehindert werden, von den Rechten Gebrauch zu machen, die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" verkündet worden sind, und daß Deutsche, die in den Teil ihres Vaterlandes hinüberwechseln wollen, in dem diese Rechte respektiert und gewährleistet werden, unter Anwendung von Gewalt daran gehindert werden und unmenschliche Freiheitsstrafen erhalten.

 

I. Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit

 

(Art. 13 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte")

 

1. Die Behörden der Sowjetzone hindern gewaltsam ihre Bürger, in die Bundesrepublik zu reisen oder gar auszuwandern. Sie haben zu diesem Zweck das Republik-Fluchtgesetz erlassen, das bei hohen Freiheitsstrafen eine Reise nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik Deutschland ohne Genehmigung der Behörden verbietet. Diese Genehmigung wird selbst zum Besuch engster Familienangehöriger und in Krankheits- und Todesfällen im allgemeinen nicht erteilt.

 

Ebenso werden religiöse Bindungen durch das sowjetische Regime gewaltsam verletzt. Pfarrer und Gemeindemitglieder können nicht mehr zu ihren Gemeinden gelangen. Geistliche werden daran gehindert, Gottesdienste auf der anderen Seite der Mauer und des Stacheldrahtes abzuhalten.

 

2. Wenn die Deutschen in der SBZ in Freiheit leben wollen, sind sie gezwungen, ihre Heimat unter Gefahr für Leib und Leben zu verlassen. Seit Gründung der sogenannten „DDR" im Jahr 1949 sind bis Ende 1961 fast vier Millionen Menschen in den freien Teil von Berlin und in die Bundesrepublik gekommen. Ihr Eigentum konnten sie nicht mitnehmen; es wurde sofort von der Regierung beschlagnahmt.

 

Seit dem 13. August 1961, an dem Tag, an dem die Mauer errichtet wurde, ist es dennoch mehr als 13 000 Landsleuten gelungen, sich in das freie Deutschland zu retten.

 

3. Seit dem 13. August 1961 wurden fast 4000 Personen in Ost-Berlin zwangsweise evakuiert, ebenso weitere 2000 Landsleute in zahlreichen Orten an der Demarkationslinie.

Die Menschen in der SBZ, an der Demarkationslinie und in Berlin nahe der Mauer müssen ständig darauf gefaßt sein, aus ihren Heimen und Wohnungen ohne Angabe von Gründen vertrieben zu werden.

 

Am 20. September 1961 werden in der Harzer Straße in Ost-Berlin und an der Späthbrücke 250 Familien aus ihren Häusern verjagt.

 

Vom 24. bis 27. September 1961 müssen fast 2000 Menschen ihre Wohnungen in der Bernauer Straße, direkt an der Mauer, verlassen.

 

Am 26. und 27. Februar 1962 werden in Groß-Ziethen und in Staaken 50 Häuser zwangsgeräumt ...

 

II. Recht auf Leben und Freiheit

 

(Art. 3 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte")

 

3. Nachstehend zwei Beispiele von Urteilen gegen Jugendliche:

 

Am 15. September 1961 werden fünf junge Menschen teilweise zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt:

 

Oberschüler Resag, 17 Jahre, lebenslänglich Zuchthaus

 

Lehrling Gartenschläger, 17 Jahre, lebenslänglich Zuchthaus

 

Schlosser Lehmann, 18 Jahre, 15 Jahre Zuchthaus

 

Maler Riediger, 18 Jahre, 12 Jahre Zuchthaus

 

Oberschüler Höpfner, 17 Jahre, 6 Jahre Zuchthaus

 

Am 8. August 1962 werden sieben Jugendliche zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt:

 

Richard Küter, 16 Jahre, 10 Jahre Freiheitsentzug

 

Klaus Feucht, 18 Jahre, 8 Jahre Zuchthaus

 

Gerhard Blechschmidt, 17 Jahre, 7 Jahre Freiheitsentzug

 

Jürgen Flegel, 18 Jahre, 6 Jahre Zuchthaus

 

Klaus Kocher, 18 Jahre, 6 Jahre Freiheitsentzug

 

Norbert Link, 17 Jahre, 5 Jahre Freiheitsentzug

 

Renate Lindow, 21 Jahre, 6 Jahre Zuchthaus

 

4. Seit dem 13. August 1961 bis zum 31. August 1962 haben nachweisbar 40 Menschen ihren Versuch, in den freien Teil Deutschlands zu gelangen, mit dem Leben bezahlt oder sind an den Folgen der tödlichen Verletzungen gestorben ...

 

5. Selbst Kinder und Jugendliche werden nicht geschont:

 

Am 10. Juni 1962 wird bei einem Versuch, Ost-Berlin zu verlassen, auf dem Gebiet der Kolonie „Sorgenfrei" in Treptow, Kiefholzstraße, der 12jährige Wolfgang Glöde angeschossen. Mit einem Lungendurchschuß läßt man ihn eine Stunde lang auf dem Vereinsplatz der Kolonie liegen. Auf dem Transport zum Krankenhaus stirbt er.

 

Am 17. August 1962 wird der 18 Jahre alte Bauarbeiter Peter Fechter beim übersteigen der Mauer angeschossen. Schwer verletzt läßt man ihn eine Stunde lang auf der Ost-Seite der Mauer liegen und verbluten.

 

6. Angehörige der Sowjetzonen-Polizei und Streitkräfte versuchen in großer Zahl in ihrer Gewissensnot, auf ihre eigenen Landsleute schießen zu müssen, in den freien Teil Deutschlands zu gelangn. Von August 1961 bis August 1962 ist 527 Angehörigen der „Nationalen Volksarmee" und der Grenztruppe dieser Versuch geglückt...

 

Die hier angeführten Tatsachen und Zahlen können jederzeit durch Zeugenaussagen und andere Beweismittel nachgewiesen werden.

 

Diese ständige und schwere Verletzung der Menschenrechte mitten in Deutschland und Europa bedeutet zugleich eine Gefährdung des Weltfriedens.

 

Das Kuratorium UNTEILBARES DEUTSCHLAND fühlt sich deshalb verpflichtet, diese Umstände der Menschenrechtskommission zur Kenntnis zu bringen. Es appelliert an das in den Vereinten Nationen verkörperte Weltgewissen, in der Hoffnung, daß diese unmenschlichen Zustände beseitigt werden. Das Kuratorium UNTEILBARES DEUTSCHLAND würde es dankbar begrüßen, wenn Wege gefunden werden könnten, auf denen im Geiste der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" den betroffenen Menschen geholfen wird.

 


Quelle: Die Folgen des 13. August - DOKUMENT 50