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Referat Generalstaatsanwalt Dr. Gerhard Mützelburg am 04.11.1967 vor der Fachtagung des Königsteiner Kreises in Königstein

Begrüßung

Die Freude, meine Damen und Herren, vor ihrem Kreis von wissenden und erfahrenden, mit dem Wesen des DDR genannten Phänomens - so sagt man heute - Vertrauten zu sprechen, wird nur getrübt durch den makabren Gehalt des Themas, das sie mir gestellt haben.

symbole des terrors

Symbole des Terrors - Symbole der Unmenschlichkeit. Quelle: Berliner-Mauer-Archiv

Referat

 

Es ist inzwischen so komplex geworden, wie überhaupt das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und SBZ. Was noch vor fünf Jahren als unumstrittene Rechtsansicht herrschte, gilt heute als dubios und suspekt. Diejenigen, die sich von Amts wegen wie ich und die mir nachgeordneten Staatsanwälte der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter mit dem Zonenunrecht befassen, fühlen den Boden unter den Füßen schwanken und sind dankbar für jede Stütze, die Rechtsprechung und juristisches Schrifttum bieten.

 

 

Als die Landesjustizminister - übrigens auf Anregung der Berliner Regierung - sich im Herbst 1961 entschlossen, eine der zentralen Stelle in Ludwigsburg vergleichbare Zentrale Erfassungsstelle ins Leben zu rufen, beabsichtigten sie erklärtermaßen, die Gewaltakte an der Demarkationslinie und in der SBZ, die im Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer stünden, zu erfassen, Beweismittel zu sammeln, um diese Taten schließlich einer strafrechtlichen Sühne zuzuführen. Kein Zweifel, es sollten nur strafrechtlich verfolgbare Gewaltakte erfasst werden. Kein Minister, der nicht das Schießen an der Demarkationslinie, das gewaltsame Verhindern der freien Ausreise aus der SBZ in die Bundesrepublik für strafbares, bei uns verfolgbares Unrecht gehalten hätte. Damals, 1961, gab es niemanden, der den Bau der Mauer für eine rechtmäßige Befestigung einer Staatsgrenze, dass Überschreiten dieser und anderer fester Grenzhindernisse für eine unrechtmäßige, vom DDR-Regime zu Recht verfolgte Handlung angesehen hätte.


Nur unter diesem Blickwinkel lässt sich überhaupt die Errichtung der Zentralen Erfassungsstelle verstehen. Nur auf diesem rechtlichen Hintergrund wurde sie in den Justizapparat ein und einer Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht - nämlich Braunschweig als den Bezirk mit den reichsten, aber auch traurigsten Erfahrungen auf diesem Gebiet - angegliedert.

Es wäre wenig sinnvoll gewesen, eine Stelle, die etwa nur historisch bedeutsames Material zusammengetragen hätte, mit Staatsanwälten zu besetzen. Diese Stelle Beamten einer Strafverfolgungsbehörde anzuvertrauen, bedeutete also nichts anderes, als ihre Aufgaben unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Verfolgung zu sehen. So hat denn die Zentrale Erfassungsstelle zu keiner Zeit anderes tun wollen, als von ihr als strafbares Unrecht erkannte Handlungen zu erfassen und die Täter einer späteren strafrechtlichen Sühne vor Gericht zuzuführen.


 

Strafrecht und Moral liegen in der modernen Massengesellschaft weit voneinander ab; was moralisch verwerflich, kann strafrechtlich völlig irrelevant sein. Das moralische Verwerfliche erfassen, erfordert keine Strafjuristen. Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter muss daher als eine kriminalpolitische Vorermittlungsstelle wie die Zentrale Stelle in Ludwigsburg betrachtet werden.

Sie schafft die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verfolgung. Sie sucht Beweismittel und den Täter. Sie beantragt beim Bundesgerichtshof, ein für die Strafverfolgung zuständiges Gericht nach § 13 a StPO zu bestimmen. Denn, wie Sie wissen, wäre anders kein Staatsanwalt in der Bundesrepublik auch nur zuständig, Ermittlungen einzuleiten, die in die SBZ reichen. Von Beginn ihrer Tätigkeit im November 1961 an hat die Zentrale Erfassungsstelle es als ihre Aufgabe angesehen, begangenes Unrecht mit strafrechtlichen Mitteln zu ahnden und die potentiellen Täter vor weiterem Unrecht abzuschrecken, sie zu warnen und sie auf den Unrechtsgehalt ihres Handelns aufmerksam zu machen, um auf diese Art vorbeugend zu wirken, das Unrecht einzudämmen und dem Täter die Möglichkeit zu nehmen, sich hinter mangelndem Unrechtsbewusstsein zu verstecken.



Gewiss war es eine politische Entscheidung, diese zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zu schaffen - quasi als Antwort der Justiz auf die Mauer -, aber doch eine rechtsstaatlich begründete. Niemand hat daran gedacht, den Rechtsstaat zu Lasten Dritter, nämlich der bedauernswerten Schützen der Nationalen Volksarmee - nicht deren Opfer - zu frönen.

Aber heute sechs Jahre später gerät der juristische Untergrund ins Wanken. Juristen und Politiker gleichermaßen ziehen unsere Legitimation zu strafrechtlicher Verfolgung in Zweifel; erklären also praktisch für unrechtmäßig, was die Zentrale Erfassungsstelle mit Hilfe der Bundesanwaltschaft, des Bundesgerichtshofs und vieler polizeilicher Hilfsbeamter sechs Jahre lang getan haben. Deshalb habe ich gern zugesagt, vor Ihnen zu sprechen, denn ich erwarte Ihre Stütze.
Die Zentrale Erfassungsstelle war - kurz gesagt - von folgenden juristischen Tatbeständen ausgegangen:

Die SBZ - ein Gebiet des früheren Deutschen Reiches - kann nicht ohne zustimmenden Beschluss der in ihr wohnenden Deutschen zu einem zweiten deutschen Staat erklärt werden. Die „DDR” ist kein Ausland, also Inland, in dem die früheren Strafgesetze weiter gelten. Sowohl Mord wie Totschlag, Freiheitsberaubung, Rechtsbeugung und Körperverletzung wie Nötigung sind nach gleichlautenden Bestimmungen hier wie dort strafbar.



Die die Rechtswidrigkeit solcher Handlungen auflebenden Erlaubnissätze wie Passgesetz und Schusswaffengebrauchsbestimmungen sind nichtig, weil sie das Recht der Freizügigkeit bis zur Wirkungslosigkeit beschränken.

Die Bewohner der SBZ sind Deutsche, auf die das deutsche Strafrecht anzuwenden ist. Selbst wenn Tatortrecht gilt, haben sich die Schützen der NVA, ebenso wie die Richter der SBZ und die Staatsdiener, die die Freiheit beschränkenden Gesetze mittels Zwang durchführen, strafbar gemacht. Sie sind nach deutschem Recht vor unseren Gerichten zu verfolgen.

Werfen wir doch aber, bevor wir das juristische Problem - wie es sich heute darstellt - genauer betrachten, einen Blick auf die Tatsachen:

Da liegt die DDR durch Demarkationslinie und Mauer - gut bewehrte Grenzbefestigungen - von der Bundesrepublik getrennt. Mauer und Stacheldraht bewachen Soldaten der Nationalen Volksarmee; ausgerüstet mit Maschinenpistolen, begleitet von Hunden, unterstützt von Stolperdrähten und Minensperren sollen sie jeden, der es wagt durchzubrechen, daran hindern, mit Gewalt hindern, so befehlen es die Schusswaffengebrauchsbestimmungen und die Richtlinien für den Grenzdienst. Die Soldaten befolgen ihre Befehle wie alle Soldaten der Welt. Sie verlassen sich auf die Verantwortung ihrer Vorgesetzten, sie nehmen fest, wer in die Freiheit strebt, sie schießen auf den, der nichts beabsichtigt, als sich ihm unerträglichen Zwang zu entziehen. Viele schießen ungezielt, aber treffen, weil die Maschinenpistole im Dauerschuss zu sehr streut; manche schießen gezielt, 163 Todesopfer beklagen wir seit 1961 an Mauer und Demarkationslinie. In mehreren 1000 Fällen ist auf Flüchtlinge geschossen wurden ohne tödlichen Ausgang, aber die Schützen haben gezielt geschossen. Insgesamt hat die ZESt. 2920 Ermittlungsverfahren wegen Schusswaffengebrauch eingeleitet. (Handschriftliche Zufügung)

Wer nur festgenommen wird, muß mit hohen Freiheitsstrafen rechnen. Das Passgesetz droht nur drei Jahre Gefängnis als Strafe für das Unternehmen der Republikflucht an, wer aber anderen hilft auszureisen, wer auch nur seine eigene Freundin, seine Kinder mitnimmt, dem droht Zuchthausstrafe nach § 21 StEG, weil er jemanden verleitet, sich in die Hände der Feinde der DDR zu geben. Wer die Regierung der DDR beschimpft, ist ein Staatsfeind - er wird wegen Hetze zu Zuchthausstrafe verurteilt; wer sein Eigentum gar außer Landes zu bringen sucht, begeht das zuchthauswürdige Verbrechen der Diversion.



Sie kennen das Strafrechtergänzungsgesetz mit seinen Unternehmenstatbeständen, Ihnen brauche ich kaum zu sagen, mit welcher Schärfe die Richter der Zone diese Gesetze anwenden. Und das alles soll rechtens sein.

Sie haben mein Thema mit bedacht begrenzt - es geht heute nur um den Schießbefehl an der Mauer. Ulbricht erklärte noch am 27.4.1966 vor dem 12. Plenum des ZK der SED:

„Dieser sagenhafte Schießbefehl existiert bekanntlich nicht.”

Und der Minister für Nationale Verteidigung der DDR ergänzte Ulbricht, man habe die gleiche Ordnung an der Grenze wie jeder andere Staat. Um zu verhindern, dass unsere Bürger ökonomisch ausgegliedert und ideologisch zersetzt werden, steht die Grenzsicherung. Dem dienen allein die Schußwaffenbestimmungen und die Standortdienstvorschriften.

In der Tat gibt es formell kein ausdrücklich als Schießbefehl deklariertes Dokument. - Es gibt „nur” Schußwaffengebrauchsbestimmungen für die Wachen, Posten und Streifen der NVA - die DV 10/4.

> Unter Ziffer 314 dieser Dienstvorschrift heißt es wörtlich:

„Von der Schusswaffe darf nur Gebrauch gemacht werden

a) auf Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung bei Einsätzen zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik; b) Auf Befehl des Kommandeurs, des Wachhabenden oder des Streifenführers bei Angriffen auf Einheiten, Wachen oder Streifen, wenn die Anwendung der Schußwaffe zur Selbstverteidigung sowie andere Mittel nicht mehr ausreichen, bzw. zur Brechung bewaffneten Widerstandes notwendig ist;

c) im Gefecht auf eigenen Entschluss des Vorgesetzten, um offenen Ungehorsam oder Widerstand eines unterstellten zur Wiederherstellung der militärischen Ordnung und Disziplin zu brechen;

d) auf eigenen Entschluss durch Wachen, Posten oder Streifen sowie andere zeitweilige oder ständige Waffenträger, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, um Handlungen, die eindeutig auf Verrat gegenüber der Arbeiter- und Bauernmacht gerichtet sind, zu unterbinden, einem unmittelbar drohenden oder gegenwärtigen Angriff auf Anlagen der bewaffneten Organe und andere staatliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Einrichtungen auf sich selbst oder andere Personen erfolgreich zu verhindern bzw. abzuwenden (entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen über Notwehr und Notstand).”
Einschränkend bestimmt Ziffer 317

„Gegenüber einem Flüchtigen, der vorläufig festgenommen wurde oder festzunehmen ist, darf erst dann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, nachdem einmal laut und verständig - ‘halt stehenbleiben, oder ich schieße’ - gerufen wurde. Bleibt der Flüchtling darauf nicht stehen, ist ein Warnschuß in die Luft abzugeben, ohne dadurch Personen zu gefährden. Setzt der Betreffende die Flucht fort, sind gezielte Schüsse zur Behinderung der Bewegungsfreiheit des Flüchtigen abzugeben.”
Unter bestimmten Voraussetzungen erlauben aber die Dienstvorschriften auch den Schußwaffengebrauch ohne Warnruf und Warnschuß, wenn - wie Nr. 318 sagt -
„... eine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer Personen, das eigene Leben oder für den Bestand von Anlagen der bewaffneten Organe sowie anderer staatlicher, gesellschaftlicher oder wirtschaftliche Einrichtungen eingetreten würde und die Gefahr mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann.”



Die DV 10/4 lehnt sich weitergehend an auch in Rechtsstaaten übliche Schußwaffengebrauchsbestimmungen an. Der wesentliche Unterschied zum Gesetz über den unmittelbaren Zwang liegt im Fehlen einer Verhältnismäßigkeitsklausel (§ 4 UZwG). Und schließlich ergingen für die Grenztruppen 1965 noch zusätzliche Schießbestimmungen, auf die Nr. 319 der DV 10/4 hinweist, wenn sie vorschreibt:

„Innerhalb der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee sind die in diesem Abschnitt festgelegten Grundsätze unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Grenzsicherung anzuwenden. Die Wachen und Grenzposten der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze zu Westdeutschland und West-Berlin haben in Erweiterung der Bestimmungen die Schußwaffen bei der Grenzsicherung auf der Grundlage der Festlegungen der DV 30/10 Ziffer. 114 bis 124 anzuwenden.”

Wir kennen die DV 10/4 im Wortlaut, die DV 30/10 ist geheim. Wir wissen um ihren Inhalt aus den Aussagen geflohener Soldaten der NVA. Nach diesen Aussagen sind die Grenzposten angewiesen, auf Flüchtlinge, die bereits die erste Grenzabsperrung erreicht haben, ohne Warnschuss zu schießen. Rote oder weiße Markierungen geben Zonen an, in denen ebenfalls ohne Warnung zu schießen ist. Besonders in Berlin soll mit allen möglichen Mitteln verhindert werden, daß ein Flüchtling lebend West-Berlin erreicht. Nach dem Handbuch für Grenzsoldaten der DDR ist überhaupt

„die Verfolgung der Grenzverletzer die aktivste taktische Handlung der Grenzposten zur Festnahme bzw. Vernichtung von Grenzverletzern”.

Diese Vorschriften erhalten nur höhere Kommandeure bis zum Regiment.



Der Abteilungskommandeur, der Kompaniechef gibt sie nur mündlich weiter, und dann nehmen diese Schießbestimmungen ihre charakteristische in ihrem Wesen begründete Form an. In der Truppenbelehrung ist jeder Flüchtling ein Grenzverletzer, jemand, der die Grenzbefestigungen angreift, ja zerstört. Also ein Delinquent, der mit der Waffe daran gehindert werden muss. In dieser Belehrung wird das rücksichtslose gezielte Schießen verlangt und befohlen, denn es ist besser, 10 Tote auf dieser Seite der Demarkationslinie als einen Lebenden jenseits in Freiheit zu wissen. Diese einprägsame, wenn auch primitiv grausame Methode, Schußwaffenbestimmungen einfachen Soldaten einzuhämmern, führt im Zusammenwirken mit der Parteipresse und der Parteischulung zu dem Phänomen:

Deutsche schießen auf Deutsche, obwohl jeder Schütze im Schoße seines Herzens nicht nur fühlt, sondern weiß: das ist Unrecht. Denn wer hätte drüben nicht einen Bruder oder Verwandten, einen Freund oder eine Freundin, die die Flucht gewagt hätten und deren nicht verbrecherische Absichten der Soldat genau kennt.
Ist das der Tatbestand, wie ist die Rechtslage?



Während sich die Rechtswissenschaft der speziellen Frage des 1966 nur selten angenommen hat, mehren sich seitdem die Stimmen, die das Problem nun allerdings als äußerst prekär kennzeichnen und das Handeln der Grenzsoldaten an der Demarkationslinie nicht mehr schlechthin für unwahr für ungerecht halten wollen. Sie gewinnen ihre Rechtsauffassung von verschiedenen Standorten.

a) der Politiker Dichgans geht von staatsrechtlichen Erwägungen aus, indem er die „DDR” als nicht souverän, unter Besatzungsstatut unfreies Gebiet Deutschlands bezeichnet, in dem die Regierung Ulbricht nur Besatzungsrecht ausgeübt und der NVA-Soldat an der Demarkationslinie eine Zone der sowjetischen Besatzung in deren Auftrag und auf deren Rechnung bewacht. Besatzungsrecht und Besatzungsmaßnahmen unterliegen nach Dichgans nicht westdeutscher Jurisdiktion. Zu diesen Maßnahmen zählt er die Schußwaffenbestimmungen der NVA. Damit ist der Grenzsoldat Besatzungssoldat und der deutschen Rechtsprechung entzogen. Einen ähnlichen Weg geht die Entscheidung des house of lords vom 18.5.1966 in Sachen der Carl-Zeiß-Stiftung, Jena. Das Urteil ist Ihnen bekannt. Immerhin hält der Politiker am einheitlichen Deutschland fest und erklärte die „DDR“ nicht zum Ausland.


Seiner Auffassung vermag ich mit Niewerth und einem jüngeren Rechtsgutachten des BJM nicht beizupflichten. Gewiss hat auch die Staatsgewalt in der DDR ursprünglich auf Ermächtigungen der sowjetischen Besatzungsmacht beruht, sie ist aber heute deutsche Staatsgewalt - Die sowjetische Besatzungsmacht selbst leitet die heute in der DDR ausgeübte Herrschaftsgewalt nicht von sich ab. Sie hat die Souveränität im Staatsvertrag von 1955 übertragen. Die DDR könnte sich auch ohne sowjetische Stütze allein halten. Da die Besatzungsmächte nach der bedingungslosen Kapitulation die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen haben, sind sie allein berufen, diese Regierungsgewalt auch wieder abzugeben. Die Russen haben das zu ihrem Teil genauso rechtens getan wie die drei anderen Mächte, sie haben die Regierungsgewalt einem von ihnen gewählten Kreis Deutscher übertragen - selbst aber auf deren Ausübung endgültig verzichtet. Der deutsche Staat ist zu keiner Zeit durch die Besatzungsmacht aufgehoben wurden - wie etwa Preußen.

b.) Der Professor für Strafrecht Grünwald neigt weit eher dazu, die „DDR” als eigenes Staatsgebilde anzuerkennen, lässt aber doch dahingestellt, ob das Gebiet der SBZ als Inland oder Ausland gelten muß. Er stellt jedoch eindeutig fest, der andere Teil Deutschlands gehöre nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, dieses könne daher keinen Maßstab für Gesetze und Verordnungen der DDR abgeben, die deutsche Rechtsprechung könne nicht in diesem Machtbereich übergreifen.

Grünwald will das Grundrecht der Freizügigkeit nicht als zum Kernbereich des Rechts gehörig anerkennen, er meint, Paßgesetz und Schußwaffengebrauchsbestimmungen seien positives, auch von uns zu beachtendes Recht. Diese Erlaubnisnormen höben die Rechtswidrigkeit von allen Delikten auf, die sich gegen Leben und Freiheit solcher Personen richten, die unerlaubt aus der DDR auszureisen suchten



Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stünde der Geltung der Schußwaffengebrauchsbestimmungen nicht entgegen, weil er nur den Befehlenden binde, nicht aber den, der die Befehle, Verordnungen und Gesetze ausführen müsse.

Die herrschende Meinung - vertreten vom Bundesgerichtshof, Schönke-Schrœder, Maurach - auch das Hanke-Urteil des Schwurgerichts Stuttgart folgt ihr - geht von der SBZ als Inland aus, in der deutsches Strafrecht gilt. Sie löst den Konflikt zwischen Recht der Bundesrepublik und der „DDR” mit den ungeschriebenen Regeln des interlokalen Strafrechts, die auch Grünwald anerkennt. Danach ist die Tat - das Schießen an der Demarkationslinie - nach dem Recht des engsten Tatortes, also der SBZ, zu beurteilen, unabhängig davon, ob am Gerichtsort andere Gesetze gelten.

Alle Versuche, das Gebiet der SBZ als Ausland zu werten, müssen an den Grundvorstellungen unserer Verfassung und der dazu ergangenen Rechtsprechung scheitern, solange nicht der politische Gesetzgeber ein klares Wort gesprochen hat. Das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe geht ebenso von der SBZ als Inland aus, wie die Entscheidungen des Bundesgerichtshof, der im BGH St 7 / 55 ausdrücklich erklärt:

„Die SBZ ist jedoch Inland, ungeachtet der politischen Verhältnisse, die das Bestehen einer einheitlichen Regierungsgewalt hindern, und die Rechtseinheit gefährden. Mit der Anwendung des § 3 und 4 StGB auf das internationale Strafrecht wäre eine Entscheidung von erheblicher staatspolitischer Tragweite verbunden, zu der die Gerichte nicht berufen sind.”



Damit folgt der Bundesgerichtshof dem Bundesverfassungsgericht, das im Urteil vom 13.6.1962 (NJW S. 1129) entschieden hat:

„Die SBZ gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden. Die Vollstreckung eines sowjetzonalen Strafurteils in der Bundesrepublik ist grundsätzlich zulässig.” Dieselbe Feststellung trifft das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 31.5.1960 (Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Bl. 14, Seite 150).

Deutlicher lässt sich die Rechtslage nicht feststellen.

An die höchstrichterliche Rechtsprechung sind die Richter und Staatsanwälte aber gebunden. Ihnen steht es nicht zu, politischen Erwägungen in ihren Entscheidungen Raum zu geben. Die DDR ist nach dem gegenwärtigen Stand der staatsrechtlichen Entwicklung ein deutsches Teilrechtsgebilde mit ursprünglich lokaler Herrschaftsgewalt, ein gliedstaatenähnliches Gebilde innerhalb des deutschen Gesamtstaates. Die öffentlich - rechtlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR besitzen innerstaatlichen Charakter, sie wurzeln im Staatsrecht, nicht im Völkerrecht. Im Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR gelten interlokalen Strafrechts, die sich in der Rechtsprechung des vergangenen Jahrhunderts entwickelt haben.

Das entscheidende Problem kristallisiert sich in der Frage, ob diese Taten - wie Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Tötung durch Schußwaffengebrauch durch die zonalen Erlaubnisnormen als gerechtfertigt gelten können. Mit unseren rechtsstaatlichen Vorstellungen sind das fast uneingeschränkte Ausreiseverbot und die Gewaltakte zu seiner Erfüllung offensichtlich nicht zu vereinbaren. Sind trotzdem Paßgesetz und Schußwaffengebrauchsbestimmungen für uns wirksame Erlaubnisnormen?



Niemand bezweifelt die Anwendung unserer rechtsstaatlichen Grundsätze, des ordre public, zugunsten des Täters. Sowjetzonale Strafnormen, die ihm widersprechen, werden von unseren Gerichten nicht angewendet. Kein Deutscher kann in der Bundesrepublik nach dem Paßgesetz oder dem Ergänzungsgesetz bestraft werden. Unser Problem entwickelt sich allein an der Frage, ob der ordre public auch zu Ungunsten des Täters wirken kann und damit Erlaubnisnormen vor unseren Gerichten nicht zu beachten sind.

Überwiegend bejaht das Schrifttum diese Frage (Rosenthal, Niewert, wohl auch Mattill, während Maurach sich unklar ausdrückt). Allerdings fehlt dafür im Schrifttum wie in der Rechtsprechung eine eingehende Begründung.

Der BGH erkennt den ordre public bereits seit seiner Entscheidung im 7. Band (BGH St 7/55) an. Er scheint die rechtsstaatlichen Grundsätze der Bundesrepublik auch auf das interlokale Strafrecht zu beziehen. Seite – 9, 307 -

Im 14. Band führt der BGH aus, das allgemeine Ausreiseverbot der SBZ, wobei schon die Vorbereitung an einer Flucht mit hohen Strafen bedroht wird, erfülle keine rechtsstaatliche Ordnungsaufgabe, deswegen läge auch dann eine politische Verfolgung - nach § 241 a StGB vor, wenn sie formell im Rahmen des positiven Rechts eines autoritären Zwangsstaates geschehe, deswegen läge auch dann eine politische Verfolgung – nach § 241 a StGB - vor, wenn sie formell im Rahmen des positiven Rechts eines autoritären Zwangsstaates geschehe. In der Entscheidung vom 13.6.65 erklärt der BGH § 8 Paßgesetz ausdrücklich für rechtswidrig.
Vieles spricht dafür, die von uns nicht zu beeinflussende Rechtsgestaltung der DDR durch den ordre public der Bundesrepublik zu korrigieren. Da das Recht unteilbar ist, geht die herrschende Meinung von einer umfassenden Korrektur aus und stellt auch die Erlaubnisnormen der SBZ unter den rechtsstaatlichen Vorbehalt.



Am Beispiel der Notwehr zeigt sich dies deutlich. Würde ein Zonenflüchtling in der SBZ von Grenzposten gestellt sich zur Wehr setzen und den Posten körperlich verletzen, selbst aber auch verletzt werden, könnte der Flüchtling bei uns nicht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder Körperverletzung bestraft werden, weil nach unserer rechtsstaatlichen Ordnung das Vorgehen des Grenzsoldaten rechtswidrig war, der Flüchtling also in Notwehr gehandelt hat. Würde der ordre public nicht auch zu Ungunsten des Soldaten wirken, so würde dieser von unseren Gerichten nicht bestraft werden können, weil sein Verhalten ja rechtsmäßig war. Lässt man den ordre public aber zu Ungunsten des Soldaten wirken, so gelingt eine einheitliche Beurteilung des Tatgeschehens, der Zonensoldat handelt in jedem Fall rechtswidrig.

Damit ist die Frage nach der Schuld offen. Natürlich kann der Soldat alle Schuldausschließungsgründe wie entschuldbaren Verbotsirrtum, Befehlsnotstand u. a. in Anspruch nehmen.

Die abweichende These, der Grünwald, Bade, Bull und Woll folgen, wíll gerade aus der Verschiedenheit der Tatbestände den ordre public nur zugunsten des Täters anwenden. Sie erkennt in der Ordnungskorrektur eine Schutzfunktion, die aber keinesfalls zur Bestrafung entgegen dem Tatortrecht führen darf. Gewiss lebt der Bewohner der SBZ unter einer einheitlichen Rechtsordnung, er richtet sein Verhalten nach ihr aus, nach Zonenrecht handelt er rechtmäßig, wenn er der Erlaubnisnorm folgt. Versagt man der Erlaubnisnormen ihre (Seite – 10, 308) Rechtswirkung wegen Verletzung des ordre public, so möchte es ungerecht erscheinen, den Zonenbewohner dann zu bestrafen - möglicherweise könnte sogar der Grundsatz nulla poena sine lege verletzt sein. Das gibt zu denken, denn dieser Satz gehört auch in Zukunft zu unserer Grundordnung. Kann denn wirklich an den in der DDR lebenden Deutschen die Betrachtung unserer für sie schon fremden Rechtsprechung verlangt werden, zumal wir nichts tun können, ihre Rechtsprechung zu ändern? Bull hat dies prägnant „Rechtsstaat zu Lasten Dritter” genannt.

Wenn Tatortrecht angewendet wird, wird es uneingeschränkt anzuwenden sein - also auch mit den Erlaubnisnormen. Dann bliebe also der Richter, der einen Flüchtling nach § 8 Passgesetz bestraft, der Soldat, der auf einen Flüchtling schießt straflos? Ich möchte Ihnen später zeigen, wie ich das Problem lösen möchte.



Schließlich sucht eine Minderheitsmeinung - sie ist aber im Vordringen begriffen - die Regeln des internationalen Strafrechts als interlokales Strafrecht anzuwenden ( so Dreher, Welzel, Lackner, Hermann, Metzger-Blei). Dann richtet sich die Rechtsanwendung nach § 4 Strafgesetzbuch. Diese Auffassung erkennt zurecht, daß das interlokale Strafrecht seinem Wesen nach eine Grundübereinstimmung der Rechtsordnungen voraussetzt, wie sie früher etwa in Preußen und Bayern, in Braunschweig und Hessen geherrscht hat, als man diese Grundsätze entwickelte. Solche rechtliche Grundkonzeption fehlt und sie geht zwischen Ost und West ständig mehr verloren. Deswegen sollten die internationalen Regeln auch für das internationale Strafrecht gelten. Diese Auffassung will die objektive Allgemeinsituation der dem Zwangsregime Unterworfenen auf der Ebene der Rechtswidrigkeit berücksichtigen, weil man einfach nicht verlangen könne, sich ständig mit der sie faktisch beherrschenden Rechtsordnung im Widerspruch zu setzen (Döring Seite 272).

Die entsprechende Anwendung von § 4 Absatz 2 StGB auf Handlungen der Grenzsoldaten bedeutet:

sie können in der Bundesrepublik nur bestraft werden, wenn Strafbarkeit in beiden Rechtskreisen gegeben ist. Da in unserem Recht die Erlaubnisnormen des § 8 Passgesetz fehlt, wäre hier Strafbarkeit vorhanden, in der SBZ jedoch nicht, weil sie die Erlaubnisnormen kennt. Der ordre public müßte, wenn man von den Grundsätzen des internationalen Strafrechts ausgeht, außer Betracht bleiben, sonst würde man gerade das, was nach Tatortrecht straflos bleiben soll, für strafbar erklären. Selbst wenn man an die Selbstbindung denkt, die sich die DDR durch ihre eigene Verfassung auferlegt hat, wird man zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Die Verfassungsmäßigkeit des Paßgesetzes kann von unseren Gerichten nicht geprüft werden, weil die DDR keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt. In Wahrheit entspricht der Wortlaut des § 8 Paßgesetz durchaus dem in Artikel 49 der DDR-Verfassung garantierten Freizügigkeitsbegriff, denn dort steht nichts von einem generellen Ausreiseverbot. Wie Kabel in seiner Hamburger Dissertation 1967 eindrucksvoll dargelegt hat, hat sich das Paßgesetz in keiner Weise gebunden, lediglich die Anwendung des Verbots durch die Verwaltung führt zu der generalisierenden Wirkung. Schließlich steht auch die DDR-Verfassung unter dem Vorbehalt der sozialistischen Entwicklung, sie dient dem Ziel, die sozialistische Persönlichkeit des Bürgers zu entfalten, aber nur des sozialistischen, nicht des republikflüchtigen.



Aus dem positiven Recht läßt sich - so scheint es - nur mit Hilfe der etwas gewaltsamen Korrektur durch den ordre public zu Ungunsten des Täters eine Strafbarkeit der Zonensoldaten begründen. Ich meine, wir sollten nicht am positiven Recht kleben, um uns nicht dem Vorwurf von vorgestern auszusetzen, denn auch Ungerecht kann als positives Recht in Erscheinung treten. Die reine Rechtslehre Kelsens erklärt auch die Rassengesetze der NS-Zeit für geltendes Recht, weil sie formgerecht zustande gekommen und teilweise Anerkennung gefunden haben. Danach wären auch die Zonengesetze, die das Schießen auf Wehrlose gebieten, geltendes Recht. Aber gerade im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Gewaltverbrechen hat der Bundesgerichtshof schon bald nach seiner Errichtung die Lehre vom Kernbereich des Rechts entwickelt. Danach sind Erlaubnisnormen nicht zu beachten, wenn sie den „unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts, wie er im Rechtsbewusstsein aller Völker lebt” verletzen (BGH St 2/239) und wenn diese Verletzung offenkundig liegt.
Auch in den Beratungen der großen Strafrechtskommission wurden eindeutig festgestellt, willkürliche Ausnahmenormen auch einer ausländischen Rechtsordnung, die den elementarsten rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen, müssten unbeachtet bleiben (Niederschrift Bd. IV S. 7). Das wird auch für das interlokale Strafrecht gelten müssen, wenn man nicht die weitreichende Korrektur des ordre public anerkennt.



Der Bundesgerichtshof hat denn auch in den unveröffentlichten Urteil vom 16.3.1965 (5 St R 63/65), in dem er sich mit dem Schießen an der Zonengrenze beschäftigt, ausdrücklich erklärt:

„Dieser Schießbefehl und seine Ausführungen sind rechtswidrig.” Der Bundesgerichtshof führt fort:

„Es läßt sich daher sehr wohl die Auffassung vertreten, daß einem Grenzpolizisten, der in Ausführung des genannten Schießbefehls einen Menschen getötet und damit den äußeren und inneren Tatbestand des Mordes, des Totschlags oder der Beihilfe hierzu verwirklicht hat, in Fällen, in denen es möglich und zumutbar war, sich dem Konflikt zwischen Befehls- und Rechtsgehorsam durch Flucht zu entziehen, als Schuld vorgeworfen werden muss, daß er nicht geflohen ist.”

Auch das Oberlandesgericht Celle hat in einem Beschluß vom 29.7.1964 - 3 Ws 369/64 - Haftbefehle gegen zwei NVA-Soldaten erlassen, die den Journalisten Kurt Lichtenstein erschossen haben. In den Gründen dieses Beschlusses heißt es:

„Die Abgabe der gezielten Schüsse war rechtswidrig. Die Schußwaffengebrauchsbestimmungen stellen für den Täter keinen Rechtfertigungsgrund dar, insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Stuttgart verwiesen werden (NJW 64/63). Und dieses, das Hanke-Urteil, ist Ihnen bekannt. Es beruft sich u. a. auch auf über positives Recht.

In Parenthese mag gesagt sein: Fälle, in denen entgegen den Schußwaffengebrauchsbestimmungen auf schon Bewegungsunfähige zur weiteren Flucht nicht mehr Bereite geschossen wird, werden ohnehin nicht von den Schußwaffengebrauchsbestimmungen gedeckt. Ich denke an den Fall Kleinert bei Hohegeiß, auf den noch geschossen wurden war, nachdem er sich schon getroffen in einem Busch versteckt hatte. Übrigens haben in den letzten Tagen NVA-Soldaten das für ihn unweit des Sterbeortes errichtete Mahnmal auf dem Gebiet der Bundesrepublik zerstört.



Ich sehe den Verstoß gegen den Kernbereich des Rechts durch § 8 Paßgesetz und die Schußwaffengebrauchsbestimmungen in zwei Richtungen:
a) Die Freiheit des Menschen, die Menschenwürde und ihre Unverletzlichkeit sind Grundelemente menschlichen Lebens, ohne die dieses sein eigentliches Wesen verliert. Nur der freie Mensch kann Subjekt von Rechten und Pflichten sein, nur ein solcher Mensch kann sich für gut oder böse entscheiden. In der Freiheit der politischen Entscheidung liegt auch das Wesen jeder Demokratie. Zwar sind in allen Jahrhunderten der Menschheitsentwicklung Bürger aus politischen Gründen der Freiheit beraubt und getötet wurden, das geschah aber stets unter totalitären Regimen, die ja die Machthaber der DDR noch schärfer noch als wir ablehnen. Mag man nun auch jedem Staatsgebilde zubilligen, sich nach der Mehrheit seiner Bürger politisch zu organisieren und Staatsfeinde zu verfolgen; den Menschen zu zwingen in einem ihm nicht passenden Staat zu leben, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, Zuflucht in einer ihm gelegenen politischen Gemeinschaft zu suchen - und sei es unter Verzicht auf alle menschlichen und wirtschaftlichen Bindungen - das ist das Ende der menschlichen Freiheit und der Menschenwürde schlechthin. So ist denn das Grundrecht der Freizügigkeit nur ein Ausfluß des umfassenden Grundrechts der Freiheit, wie es in allen kultivierten Völkern der Menschheit anerkannt ist. Die alten Griechen verbannten politische Staatsfeinde und richteten sie nur hin, wenn sie sich weigerten, außer Landes zu gehen. Die Fürsten des 16. Jahrhunderts zwangen zwar ihre Untertanen, sich zu ihrer Religion zu bekennen, hinderten sie aber nicht, das Land zu verlassen. Freizügigkeit im Sinne der Menschenrechtsdeklaration der UNO in Artikel 13 Absatz 2, nach der jedermann das Recht hat, sein Land zu verlassen und wieder in es zurückzukehren, das Unterpfand jeder politischen Freiheit, mit dem letztlich noch gegen den Zwang im Plebiszit der wandernden Füße demonstriert werden kann. Gehört also Freiheit des Menschen zu den unantastbaren Grundrechten, so auch das Recht auf Freizügigkeit im beschränkten Sinne des Verlassens der Heimat. Wo aber auch das nicht einmal gewahrt ist, fehlt ein wesentliches Element menschlicher Freiheit; Seite – 14, 311 Gesetze, die dahin führen, verstoßen gegen den Kernbereich des Rechts, weil sie die letzte Möglichkeit menschlicher Freiheit, das Leben nach eigener Entschließung zu formen, zerstören. Solche Gesetze müssen deshalb als rechtswidrig gekennzeichnet werden. Wenn Heinitz (Probleme der Rechtsbeugung 1963 S. 12) die Bestimmungen über die sogenannte Republikflucht so sehr als der Idee von Recht und Gerechtigkeit widerstrebend erklärt, daß sie als absolut nichtig angesehen werden müssen, unterstützt er diese These. Auch er leitet sie aus überpositiven Recht ab.



Sind aber Paßgesetz und Schußwaffengebrauchsbestimmungen rechtswidrig, so können sie die Tötungshandlungen nicht rechtfertigen. Und abhängig vom ordre public der Bundesrepublik stellt sich die Unwirksamkeit dieser Erlaubnisnormen heraus. Dann aber muss nicht nur das Schießen an der Demarkationslinie, sondern auch das Festnehmen, das Verurteilen zu hohen Freiheitsstrafen nach § 8 Passgesetz und § 21 StEG als strafbare Tötung, als Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung gewertet werden.

b) Der zweite Gesichtspunkt überpositiven Rechts findet sich im Rechtssatz der Verhältnismäßigkeit oder dem Verbot des Übermaßes. Als Zweck des Paßgesetzes bezeichnen seine Urheber selbst, die Abwanderung von Arbeitskräften zu unterbinden und eine damit verbundene Existenz bedrohende Verminderung der Wirtschaftskapazität zu verhindern. Den Schußwaffengebrauch mit dem Ziel des Tötens vermag ich als angemessenes Mittel zu diesem Zweck nicht anzuerkennen. Mauer, Stacheldraht und die neuen mit Lichtstraßen versehenen Stanzblechwände mögen dazu ausreichen, zumal wenn sie noch durch Hunde ergänzt werden.

Das vorsätzliche oder bewußt fahrlässige Töten verstößt bei dieser Zielsetzung offenbar und für jeden erkennbar gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Welchen Sinn sollte es haben, einen Menschen, den man als Arbeitskraft erhalten will, zu töten. Das Mittel widerspricht also offensichtlich den Zweck; es kommt der Todesstrafe für einen geringfügigen Ordnungsverstoß, nämlich dem Unterlassen, eine Verwaltungsgenehmigung einzuholen, gleich.

Die Schußwaffengebrauchsbestimmungen sind daher, weil sie ein maßloses, und angemessenes Mittel befehlen, rechtswidrig. Die auf ihm beruhenden Tötungshandlungen - mindestens das Schießen mit der Absicht oder dem in Kauf nehmen zu töten - sind nicht gerechtfertigt, sondern rechtswidrig.



Das Verbot des Übermaßes steht der Erlaubnisnormen in den Schußwaffengebrauchsbestimmungen klar entgegen; sie rechtfertigen daher der Schießen nicht, auch ohne den ordre public zu bemühen.

Anders wie der Freiheitsgrundsatz, der grundsätzlich alle die Freizügigkeit einschränkenden Maßnahmen umfasst, kann das Übermaßverbot nur die Erlaubnisrechtfertigung der Schußwaffenbestimmungen ausschließen. Denn alle anderen Mittel dürften sich noch im Rahmen des zweckmäßigen und angemessenen halten, weil auch die Wirtschaftskraft eines Landes als auf das wirtschaftliche Gedeihen seiner Bürger gerichtet als schutzwürdig anerkannt sind. (Handschriftlich: Jahrestagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission 1964, S. 59).

Nach beiden Rechtsgrundsätzen ist aber jedenfalls der Schießbefehl rechtswidrig. Ich halte - wie ich dargelegt zu haben glaube - beide überpositiven Rechtssätze auf unser Problem für anwendbar. Grünwald u. a. lehnen das ab. Generalbundesanwalt Martin und das Bundesjustizministerium in einem neueren Gutachten ziehen nur das Übermaßverbot als tragenden Rechtsgedanken gegen die Wirksamkeit der Schußwaffengebrauchsbestimmungen an.



Grünwald meint, die Schußwaffengebrauchsbestimmungen könnten schon deswegen nicht rechtswidrig sein, weil auch das Gesetz zur Anwendung unmittelbaren Zwanges in der Bundesrepublik den Zollbeamten erlaube, auf Schmuggler zu schießen. Dabei übersieht Grünwald nicht nur das Wesen der Demarkationslinie als in Wahrheit einer Trennungslinie durch einen Staat und ein Volk, also nicht einer Staatsgrenze, deswegen schießt auch kein Zollbeamter auf einen, der in die SBZ überzutreten versucht, wenn er dies nicht auch außerhalb der Grenzzone täte. Offensichtlich sind die Flüchtlinge aus der SBZ regelmäßig keine Verbrecher, wenn auch das Paßgesetz jeden Republikflüchtligen künstlich dazu stempelt. Jeder Schmuggler könnte ohne Schmuggelware legal die Grenze passieren; der Flüchtling aus der Zone kann das jedoch nicht.

Im Übrigen könnten nicht auch die Bestimmungen unseres Gesetzes über den unmittelbaren Zwang und seine Ausführung gegen das Übermaßverbot verstoßen, wenn es sich gegen Schmuggler richtet? Man kann nicht von möglicherweise zweifelhaften Gesetzen und Anordnungen der Bundesrepublik auf die Rechtmäßigkeit ähnlicher Vorschriften in der DDR schließen. Grünwald erkennt zwar selbst den Unterschied. In der DDR besteht eine Schießverpflichtung, in der Bundesrepublik nur eine Berechtigung zum Schießen;, er zieht daraus aber keine Folgerung. Diese Berechtigung steht nämlich ganz allgemein und grundsätzlich unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit der Mittel, und schon damit entkräftet sich Grünwalds Einwand.

Grünwald lehnt meine These, dass Paßgesetz und die Schußwaffengebrauchsbestimmungen verletzten anerkanntes Menschenrecht, mit der Begründung ab, schwerlich könne das Recht der DDR an diesem Maßstab gemessen werden, weil das Bundesverfassungsgericht selbst und die Bundesregierung eine allgemeine Ausreisefreiheit auch für verfassungsrechtlich garantiert betrachtete. Jedoch gründet auch das Bundesverfassungsgericht die Ausreisefreiheit auf Artikel 2 GG; wenn es eine Beschränkung dieses Grundrechts durch die Grenzen des Wohnens und der Sicherheit der Bundesrepublik zuläßt, so ist dies eine Schranke, die jedem Grundrecht immanent ist, die sich aber nicht einem generellen nur vom Belieben eines Beamten abhängigen Ausreiseverbots gleichsetzen läßt.

Wenn Grünwald schließlich meint, die Strafbarkeit der Schützen könne nicht auf positives Recht gestützt werden, das verbietet der Rechtssatz nullum sine lege, so übersieht er, dass §§ 111 und 112 StGB die gesetzlichen Vorschriften enthält und nur die Erlaubnisnormen, die noch dazu nur Verwaltungsvorschrift ist, überpositiven Recht widerspricht - also keine Strafbarkeit ohne Gesetz - von mir angenommen wird.

Die These Grünwalds: Wer sich positivem Gesetzesrecht gemäß verhalte, könne nicht bestraft werden, kann ich als schrankenlosen Positivismus einfach nicht anerkennen. Wäre das richtig, dürften mindestens die SS-Schützen der Einsatzkommandos auch rechtmäßig gehandelt haben, wenn sie tausende von Juden durch Anordnungen und Befehle legitimiert erschossen.



Nun aber werden Sie einwenden überpositive Rechtssätze könnten doch sicherlich nur dann eingreifen, wenn sie evident also allbekannt seien, wenn der Schießende - wenn der Täter schlechthin - sie auch kenne. Gewiss richtig, der Schütze kennt sie aber auch.

Jeder NVA-Soldat - er sei noch so linientreu - kennt das Unbehagen, das ihn beschleicht, wenn er auf Flüchtlinge mit der Maschinenpistole schießt. Er hält den Beschossenen in Wahrheit nicht für einen Delinquenten oder mindestens erkennt er, das Mittel des Schießen als unverhältnismäßig und übermäßig. Warum sagen uns die Überläufer immer wieder, im Kameradenkreise sei man sich über das Unrecht im Schießbefehl klar, man folge ihm auch regelmäßig nicht. Warum berufen sich diejenigen, die ertappt werden, auf Befehlsnotstand, wenn sie das Schießen an sich für rechtmäßig hielten. Der NVA-Soldat, der im vergangenen Jahr nach dem Durchbruch eines Omnibusses durch den Zonenkontrollpunkt Marienenborn auf das Fahrzeug geschossen, aber nicht getroffen hatte und am nächsten Tagen überlief, um - wie er erklärte - nicht noch einmal einer solchen Konfliktsituation ausgesetzt zu sein, ist ein sprechendes Beispiel. Warum werden erfolgreiche Schützen mit der Grenzspange ausgezeichnet, prämiert und versetzt, weil die Kameraden ihr übereifriges Verhalten verurteilen. Gibt es bessere Beweise für das Unrechtsbewusstsein, für die Kenntnis der beschriebenen überpositiven Rechtssätze? Natürlich gibt es Fanatiker, die 150%igen, die Sadisten, die ihr eigenes Interesse beim Schießen verfolgen. Sollen sie allein sich auf den Mangel der Kenntnis überpositiven Rechts berufen dürfen? Etwa Hanke, der, so unschuldig er tat, in seiner Kompanie als unbeliebt und unkameradschaftlich galt, und der ohne Anruf und Warnschuss mit den Worten schoss:

„Wetten, daß ich ihn mit dem ersten Schuss treffe?”



Schließlich spricht auch die Geheimhaltung der die Schusswaffengebrauchsbestimmungen erweiternden DV 30/10 für die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit dieser Vorschrift. NN-Erlasse pflegen geheim zu bleiben, weil politischer Widerspruch zu fürchten ist; diese Furcht aber läßt auf die Erkenntnis schließen, der Befehl widerspräche dem Recht.

Nein, der Einwand, der NVA-Soldat - in seiner Rechtsordnung gefangen könne diese allgemeinen Rechtssätze nicht kennen, noch weniger sie befolgen, überzeugt angesichts dieser Tatsache nicht.

Lassen Sie mich schließen und zusammenfassen:

a.) Die Strafrechtspflege der Bundesrepublik hat nach den Verfassungsgrundsätzen und der allgemeinen Rechtslage die SBZ als Inland zu betrachten.

b) Dort gilt zwar eigenes Recht, aber nur soweit es nicht gegen den Kernbereich des Rechts verstößt.

c) das Paßgesetz ist rechtswidrig, ebenso die Schußwaffengebrauchsbestimmungen, weil sie sowohl gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wie gegen das Grundrecht der freien Lebensgestaltung und der Freizügigkeit verstoßen.

d) Paßgesetz und Schußwaffengebrauchsbestimmungen können als Erlaubnisnormen die strafbare Tötung von Flüchtlingen nicht rechtfertigen. Diese bleibt strafbares Unrecht.

Noch ein Satz:

Nach dieser Feststellung bleibt auch die Arbeit der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter gerechtfertigt, in der Strafverfolgung mindestens für das Schießen auf Flüchtlinge, in der Registrierung schlechthin für alles Unrecht, das in der SBZ geschieht. Der Sinn des Strafens, der wohl allein in der Verhinderung von Straftaten durch Abschreckung liegen kann, erfüllt sich in der Arbeit der Zentralen Erfassungsstelle, wenn wir jährlich auch nur wenige Schützen davon abhalten können, einen Flüchtling zu töten, dann hätte sich allein diese Arbeit gelohnt.

 


Quelle: Politisches Archiv des Auswärtigen Amt, Bestand B38-IIA1, Band 193, Blatt 134-158; ursprüngliche Veröffentlichung im Mitteilungsblatt des Königsteiner Kreises, Heft 11, 1967, Nov.

Texterkennung und screengerechte Darstellung Ralf Gründer.