Nationale Volksarmee
Stadtkommandantur Berlin

Stellv. d. Stadtkommandanten

u. Ltr. Polit.-Verwaltung
O.V., den 23.06.1964

Az./ Her./Kr.

Tgb.-Nr.: 225/64

An das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin


Genossen Paul Verner

Berlin

In den letzten Wochen, besonders während der Tage um den 17. Juni, ist eine starke Aktivität auf dem Gebiet der ideologischen Diversion durch den Gegner an der Staatsgrenze zu Westberlin zu verzeichnen. Neben fortgesetzten Provokationen gegenüber unseren Posten - versuchte Kontaktaufnahmen, oft mit üblen Beschimpfungen verbunden, und der Aufforderung zur Fahnenflucht, wobei einem Genossen 2.000,- Westmark angeboten wurden, gab es eine neue Art der Lautsprecherprovokation.

In der Zeit vom 27. – 29. Mai und am 16. Juni wurde über Handlautsprecher in 6 Fällen gehetzt. Die Megaphone haben eine Reichweite von etwa 150 m in das eigene Hinterland. Offensichtlich handeln diese Provokateure im Auftrage des dem Senat unterstellten „Studio am Stacheldraht“.
Die Hetzsendungen werden eingeleitet mit den Worten „Hier ist der Sender Freies Deutschland“, in einigen Sendungen wurde dieser Satz mit der Bemerkung „am Stacheldraht ergänzt. In den Sendungen wird - vermischt mit Vorkommnissen im Grenzgebiet, Durchbrüche, Festnahmen usw. - in übler Weise gegen unsere Partei- und Staatsführung gehetzt und unsere Soldaten werden zur Fahnenflucht aufgefordert. Bis auf eine Sendung im Abschnitt Grenzregiment 33 erfolgten die anderen Sendungen ausschließlich im Abschnitt des Grenzregimentes 31.

Ich schlage vor, daß bei erneuter Provokation mit Lautsprechern an der Staatsgrenze ein energischer Protest über ADN, verbunden mit der Aufforderung an den Westberliner Senat, diese und andere Provokationen nicht zuzulassen, veröffentlicht wird.
Wenn trotz dieses Protestes die Aktionen nicht eingestellt werden, schlage ich vor, eine Kontersendung wie am 08.05.1963 durchzuführen.

In den vergangenen Tagen würden gleichfalls durch den Gegner größere Flugblattaktionen durchgeführt. Am 4. Juni wurden im Grenzgebiet Wilhelmsruh und im Grenzgebiet Oranienburg und Nauen 172 Exemplare des vom „Ostbüro der SPD“ herausgegebenen „Sozialdemokrat 5/64“ gefunden.
In der Zelt vom 16. – 22. Juni wurden insgesamt 3.478 Flugblätter gefunden, dabei allein am 17. Juni 3.181 Stück.

Zweifellos ist die Zahl der abgeworfenen Flugblätter bedeutend höher, als es die genannten Zahlen aussagen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß eine größere Zahl Flugblätter von im Grenzgebiet wohnenden Personen aufgenommen wurden bzw. an Wassergrenzen oder Waldabschnitten nicht ihr vorgesehenes Ziel erreichten, in den Grenzsicherungsanlagen hängenblieben usw.

Die Masse der Flugblätter wendet sich an unsere Soldaten mit folgendem Text:

„Soldaten! Wir kennen Eure Konfliktsituation; dennoch laßt Euch nicht zu Henkern einiger Verbrecher machen!
Der Schießbefehl besteht nicht im Sinne der Bevölkerung – der 17. Juni hat es bewiesen. Folgt dem Befehl Eures Gewissens!

Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.“

Eine kleinere Zahl Flugblätter wendet sich an die Soldaten unter dem Motto „Der große Sprung in die Freiheit" mit der — offengelassenen – Aufforderung, es Fahnenflüchtigen nachzumachen und selbst zu desertieren (Anlage 1)

Auf Grund dieser massiven Aktion des Gegners schlage ich vor, am 1. Juli 1964 eine eigene Flugblattaktion als Kontermaßnahme durchzuführen. Unsere Flugblätter sollten sich gegen die widerrechtliche Wahl Lübkes zum Bundespräsidenten in Westberlin wenden.

Wenn das Büro der Bezirksleitung diesem Vorschlag zustimmen sollte, bitte ich Sie, die Ideologische Kommission der Bezirksleitung mit der Ausarbeitung des Textes zu beauftragen (Flugblattformat DIN A 7, Anlage 2).

Der Druck der Flugblätter erfolgt nach unserem Antrag durch die Politische Hauptverwaltung der NVA. Die Laborierung und der Abschuß der Flugblätter wird durch die Politische Verwaltung der Stadtkommandantur durchgeführt.

In Anbetracht der bis zum l. Juli 1964 verbleibenden Zeit hängt diese vorgeschlagene Aktion von der schnellen Abfassung und Bestätigung des Textes ab. Der zum Druck bestätigte Text müßte spätesten am 26. Juni vorliegen.

Desweiteren bedarf die Sichtagitation an der Staatsgrenze zu Westberlin einer raschen Klärung. In Vorbereitung des Deutschlandtreffens wurden in Zusammenarbeit zwischen dem Organisationskomitee Deutschlandtreffen, der Ideologischen Kommission der Bezirksleitung der Stadtkommandantur entlang der Staatsgrenze zur Hauptstadt [...] - einschließlich der KPP’s - 35 Agitationsflächen aufgestellt. Ich habe mich bereits am 9.6.64 an den Genossen Selbmann gewandt, aber bis jetzt noch keine Antwort von der Ideologischen Kommission erhalten. Wegen der seit dem Deutschlandtreffen bereits sehr vergangenen Zeit und der sich daraus ergebenden Notwendig, die Ausgestaltung an der Staatsgrenze zu aktualisieren, ist baldige generelle Klärung folgender Probleme notwendig:

Gestaltungsflächen der 35 Aufsteller müssen, um eine bessere Wirkung nach Westberlin zu erreichen, auf die Fläche 3,60 m Quadrat verdoppelt werden. Zugleich wird damit ein besseres Verhältnis zwischen der Stahlrohrkonstruktion und der Gestaltungsfläche erreicht.

Die Agitationsflächen müssen zur Visitenkarte unserer Republik für die Westberliner Grenzbevölkerung und die Menschen werden, die auch durch Westberliner Dienststellen oder Reisebüros an die Grenze geführt werden.

Die Berechnungen der DEWAG-Werbung Berlin belaufen sich die [...] für die Vergrößerung der Flächen und die Anfertigung einer Ausstattung auf etwas über 15.000,— DM. Damit ist aber noch nicht die ständige aktuelle Gestaltung geklärt.

Da die regelmäßige Gestaltung der Flächen, die politische Sicht-Agitation nach Westberlin, nicht Aufgabe der Stadtkommandantur [sein] kann, hatte ich vorgeschlagen, die in Vorbereitung des Deutschlandtreffens in Aktion gewesene Kommission für Agitation an der Staatsgrenze unter verantwortlicher Leitung der Ideologischen Kommission der Bezirksleitung Berlin als ständiges Organ arbeiten zu lassen. Zur Aufgabe dieser ständigen Kommission müßte auch die

Bearbeitung und Bestätigung von Texten für eventuell notwendige Lautsprechereinsätze, für Flugblattaktionen usw. sein.

Meinerseits hatte ich bereits zwei Genossen der politischen Verwaltung für Mitarbeit in dieser Kommission benannt.

Entsprechend den Erfahrungen des Zentralkomitees über die Agitationsarbeit an der Staatsgrenze West macht es sich erforderlich, durch diese Kommission der Bezirksleitung eine ständige aktuelle Agitation (Austausch der Werbefläche) gesichert wird.

Die dazu notwendigen finanziellen Mittel müßten in voller Verantwortung der Bezirksleitung von den Staatlichen Organen bereitgestellt werden.

Genosse Paul Verner!

Die sich aus der gegenwärtigen Lage ergebende Notwendigkeit, die Zusammenarbeit an der Staatsgrenze zu aktivieren, erfordert unsererseits ein rasches Handeln. Ich darf Sie deshalb um Unterstützung bei der Lösung der dargelegten Probleme und Vorschläge bitten.

Mit sozialistischem Gruß

Herkner
Oberst

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OCR und Screendesign: Ralf Gründer, Berlin
Quelle: Archiv Berliner Mauer, in [] Klammern gesetzte Textbereiche sind in der Kopie nicht entzifferbar. OCR und screengerechte Darstellung durch Ralf Gründer