„Nico Hübner ist in großer Gefahr. Er macht beim Staatssicherheitsdienst eine psychologische Tortur ohnegleichen durch. Sie werden versuchen, ihn zu brechen. Eine langjährige Haftstrafe in einem der menschenunwürdigen Zuchthäuser des SED-Staates droht dem Ostberliner“ Der Mann, der das sagte, hatte zum Zeitpunkt der Verhaftung Hübners diesen Psychoterror gerade erst hinter sich: Krankenpfleger Johannes Decker aus Leipzig. Der heute 25-jährige hatte ebenso wie Hübner den Wehrdienst in der NVA verweigert. Die Bundesregierung hatte Decker wenige Wochen vor der Verhaftung Hübners nach vier Jahren Zuchthaus freigekauft.

Hübner befindet sich (Meldungen des ASD) im April 1978 im Untersuchungsgefängnis in der Kissingenstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Pankow. Die Verteidigung des jungen Regimegegners hat der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel übernommen. Vogel ist vor allem durch seine Vermittlerrolle beim Austausch von Agenten zwischen Ost und West sowie durch seine Rolle beim Freikauf von politischen DDR-Häftlingen durch die Bundesregierung bekannt geworden.

Der Gefängnistrakt in der Pankower Kissingenstraße ist direkt dem Staatssicherheitsdienst unterstellt - dieser DDR-Geheimdienst untersteht wiederum dem von Mielke geführten Ministerium für Staatssicherheit (MfS). In der Kissingenstraße befinden sich ausschließlich politische Häftlinge. Zumeist sind es Ost-Berliner, die bei einem Fluchtversuch festgenommen, wegen eines Ausreiseantrages verhaftet oder wegen „staatsfeindlicher Hetze“ inhaftiert worden sind. Durchschnittlich werden in dem SSD-Gefängnis bis zu 200 Häftlinge gefangen gehalten.

Nach den Berichten früherer Insassen des SSD-Gefängnisses sind die Gefangenen von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Die Verhöre erfolgen häufig durchgehend bei Tag und Nacht durch sich abwechselnde SSD-Offiziere. Dem Gefangenen wird zumeist versprochen, daß er sich mit einem „Geständnis“ Ruhe und bessere Haftbedingungen verschaffen könne. Nicht selten werden Repressalien gegen Angehörige angedroht, wenn der Untersuchungshäftling nicht die gewünschten Aussagen macht.

Vor dem Abschluß des „Ermittlungsverfahrens“ darf der Häftling mit keinem Rechtsanwalt sprechen. Sofern Verteidiger dennoch ihren Mandanten besuchen dürfen, ist es ihnen untersagt, mit dem jeweiligen Häftling über sein „Delikt“ beziehungsweise über die Beschuldigungen des SSD zu sprechen. Meist lernt der Angeklagte seinen Verteidiger erst wenige Tage vor dem Prozeß kennen.

In jeder Zelle des SD-Gefängnisses Kissingenstraße liegt eine Haftanstaltsordnung aus, der sich die Gefangenen unterwerfen müssen. Obwohl es strengstens verboten ist, die Haftanstaltsordnung nach draußen zu schmuggeln, ist es einem politischen Häftling gelungen, ein Exemplar in den Westen zu bringen. In den Anweisungen für die politischen Gefangenen des SSD heißt es:

„Den Inhaftierten ist untersagt:

- in den Untersuchungshaftanstalten zu lärmen, zu pfeifen, zu klopfen, zu rufen, zu singen oder auf andere Art und Weise die Ruhe und Ordnung zu stören,

- in jeder Form der Zeichengebung oder anderweitig mit Inhaftierten anderer Verwahrräume in Verbindung zu treten, aus dem Fenster zu winken, zu rufen oder sich in anderer Weise bemerkbar zu machen sowie Gegenstände aus dem Fenster zu werfen,

- sich vor das Sichtfenster (den 'Spion', d.Verf. ) der Verwahrraumtür zu stellen,

- die sanitären Anlagen zu verunstalten, zu beschmutzen oder zu zerstören,

- der Missbrauch sowie die Vornahme von Veränderungen an technischen Einrichtungen, Signalanlagen und des Standortes der Einrichtungsgegenstände in den Verwahrräumen,

- die ihnen zugewiesenen Räume oder Bereiche ohne Erlaubnis zu verlassen, - Aufzeichnungen, jeder Art ohne Genehmigung anzufertigen oder aufzubewahren, andere als ausgehändigte oder Überlassene Gegenstände zu besitzen,

- andere Inhaftierte gegen die Ordnungs- und Verhaltensregeln anzustiften oder Handlungen zu unternehmen, die sich gegen Ordnung und Sicherheit richten.“

Und weiter ist den Häftlingen laut Anstaltsordnung verboten:

„- Tätowierungen bei sich selbst oder anderen Inhaftierten vorzunehmen,

- in den ihnen zur Verfügung gestellten Büchern aus der Haftanstaltsbibliothek Eintragungen und Unterstreichungen vorzunehmen sowie Buchseiten zu entfernen.“

Die SD-Angehörigen müssen von den Häftlingen mit „Herr“ oder „Frau“ und dem jeweiligen Dienstgrad angesprochen werden. Wörtlich heißt es in der Anstaltsordnung: „Beim Gespräch ist eine aufrechte Haltung einzunehmen. Inhaftierte werden mit der Verwahrraum- und Belegungsnummer angesprochen. Die Entbietung des Tagesgrußes an Angehörige der Untersuchungshaftanstalt ist zu unterlassen.“

Erfahrungsgemäß legt der SSD zu neueingelieferten Häftlingen Spitzel in die Zellen, wenn sie in den Verhören nicht von selbst bereitwillig aussagen.

Die von den Wachmannschaften nur als Nummern angesprochenen Häftlinge werden in dem SSD-Gefängnis Kissingenstraße nur unter strengen Sicherheitsmaßnahmen zum Verhör geführt. Immer wenn ein Gefangener zur Vernehmung gebracht wird, gehen im gesamten Zellenhaus rote Lampe an, was den übrigen Wärtern signalisiert, daß kein zweiter Gefangener auf den Gängen sein darf. Damit soll erreicht werden, daß die politischen Häftlinge sich nicht untereinander sehen und kennenlernen können.

Untersuchungshaft Ebenso konspirativ geht der SSD bei Transporten und Verlegungen von Häftlingen in andere Gefängnisse oder bei Vorführungen zum Gericht vor. Die Häftlinge werden mit Handschellen gefesselt und in einen geschlossenen Kastenwagen gesperrt, auf dem sechs kleine Licht- und luftlose Zellen montiert sind. An der Außenseite tragen die SSD-Transporter die Aufschrift „Frische Fische“ oder „Konsum“. Die Fahrzeuge führen zivile polizeiliche Kennzeichen. Einem politischen Häftlinge ist es 1978 gelungen, eine vollständige Liste aller SSD-Fahrzeuge der Untersuchungshaftanstalt Kissingenstraße in den Westen zu bringen.

Während Hübner in der Kissingenstraße eingekerkert und pausenlosen verhören ausgesetzt ist, entfacht die DDR schon bald nach der Verhaftung eine vorn Staatssicherheitsdienst gelenkte „Einflüsterungskampagne“, mit der Hübner bei den in Ostberlin akkreditierten westlichen Journalisten und in diplomatischen Kreisen verunglimpft werden soll, um der breiten Sympathie in Ost und West für den Regimegegner entgegenzuwirken. Hübner werden kriminelle Delikte und Perversion unterstellt. Er sei wegen „staatsfeindlicher Handlungen mehrfach vorbestraft“, homosexuell und deshalb zum Dienst in der Armee „überhaupt nicht vorgesehen“ gewesen. Tatsächlich ist Hübner Vater eines zweijährigen Kindes. Er ist auch weder vorbestraft noch kriminell. Vergeblich versucht die DDR durch die einem totalitären Regime eigenen und entlarvenden Mitteln in der Rufmordkampagne gegen Hübner über ihre eklatanten Verstöße gegen alliiertes Recht hinwegzutäuschen.

Zunächst wird allgemein eine Anklage wegen Wehrdienstverweigerung nach § 32 des DDR-Wehrpflichtgesetzes erwartet, in dem vorsätzliche Mißachtung der Aufforderung zur Erfassung, Musterung und Diensttauglichkeitsüberprüfung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht ist. Auf Ost-Berlin wird zunehmender Druck ausgeübt. Die drei Westalliierten intervenieren bei der Sowjetunion. Das Abgeordnetenhaus beschließt einstimmig eine Resolution, in der die Freilassung Hübners gefordert wird. Der ehemalige amerikanische Kommandant des Viermächtegefängnisses Spandau, Oberst Eugene K. Bird, wendet sich schließlich an den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter. Alle politischen Nachwuchsorganisationen in Berlin, Studenten der Freien Universität und der Technischen Universität, die Arbeitsgemeinschaft 13. August, der Bund Freies Deutschland, die Landesparteitage der CDU und der F.D.P., die Notgemeinschaft freier Berliner e.V., die Arbeitsgruppe für Menschenrechte und viele andere Organisationen verurteilen in scharfer Form das vorgehen Ostberlins. Im Deutschen Bundestag begründet der Berliner CDU-Abgeordnete Peter Kittelmann einen Resolutionsantrag der CDU/CSU-Fraktion vom 23. Mai 1978, der schließlich am 7. Dezember 1978 einstimmig angenommen wird. Die Westberliner Bevölkerung erhebt in vielzähligen Demonstrationen Protest an der Mauer.

Ostberlin weicht vorerst dem massiven Druck der freien Welt. Eine Anklage wegen Wehrdienstverweigerung wird fallengelassen. Nichts kann diesem Unrechtsregime so sehr schaden, wie die öffentliche Anprangerung seiner Machenschaften.

Die DDR weist die Proteste als angeblich „grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ zurück. Der SED-Beauftragte Joachim Mitdank spricht von „provokatorischen Versuchen“ und strapaziert

abermals den schon allseits bekannten Wortschatz der DDR-Führung, wonach Hübner zu dem Versuch ausgenutzt worden sei, den für Berlin (West) gültige Viermächtestatus auf die Hauptstadt der DDR anzuwenden und damit die souveränen Rechte der DDR zu verletzen.“ Die Sowjetunion schweigt und stellt sich damit außerhalb des selbst von ihr beschlossenen alliierten Rechtes. Schließlich gar meldet sich ein Mann zu Wort, der nach weltendem Recht in ganz Berlin keine Existenzberechtigung besitzt: Der Ostberliner „Stadtkommandant“ (diese Institution ist nach alliiertem Recht nicht erlaubt), Generalleutnant Kunath, bezeichnet die Erklärung der Westalliierten als „ohne Bedeutung“. „Als Hauptstadt der DDR ist Berlin integraler Bestandteil der DDR, in der wie alle anderen Gesetze uneingeschränkt die Wehrgesetzgebung der DDR gilt.“ Und genau hierin bricht die DDR-Führung erneut geltendes Recht, absehen davon, daß Ost-Berlin niemals Hauptstadt der DDR sein kann, da die Verfügungsgewalt über ganz Berlin ausschließlich den vier Mächten vorbehalten ist.

Am 10. Mai 1978 ereignet sich am Sektorenübergang Prinzenstraße ein fast unbemerkt gebliebener Zwischenfall. Mit einem Plakat „Laßt Nico Hübner frei“ geht der aus Eichenau bei München stammende Bankkaufmann Carl-Wolfgang Holzapfel (35), Vater von drei Kindern, in den Ostsektor der Stadt. Holzapfel selbst war wegen einer früheren Demonstration in der DDR schon zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. In Ost-Berlin wird Holzapfel festgenommen, aber nach zwei Stunden wieder nach West-Berlin entlassen.

Um 17 Uhr ging Carl-Wolfgang Holzapfel durch die schmale Lücke in der Betonmauer in den Ostsektor. „Ich bin unbewaffnet und fordere Nico Hübners Freilassung“, rief er. Vor dem Körper trägt Holzapfel ein Plakat.

Noch im Juni 1978 gelangt eine erste Meldung über das Echo, das der Fall Hübner unter jungen Menschen in der DDR gefunden hat, nach Westberlin. In einer Diskussion über den 17. Juni berichtet der Berliner Menschenrechtler Wolfgang Mleczkowski - 35-jähriger Diplom-Historiker, selbst erst im Herbst 1976 von Ost-Berlin wegen seiner kritischen Haltung zur SED nach Westberlin übergesiedelt und dort Vorsitzender der Arbeitsgruppe für Menschenrechte über ein Schreiben eines 16-jährigen Mädchens aus dem Bezirk Rostock, in dem sie den Mut Hübners bewundert. Die Jugendlichen im anderen Teil Deutschlands, so geht aus dem Schreiben hervor, lehnen die „sowjetische Überfremdung“ weitgehend ab und befinden sich auf der „Suche nach nationaler Identität“.

Kurz vor des Prozeß gibt die Berliner Arbeitsgruppe den bis dahin nach unbekannten, fehlenden Teil der von Hübner 1977 in Grünberg verfaßten Studie heraus. Hübner schreibt darin unter anderem (vollständig abgedruckt im Anhang): „Wir brauchen Informationen aus dem Westen und seine moralische Unterstützung. In den Menschenrechten kann es keine Kompromisse geben, hier fängt Entspannungspolitik erst an... Die Presse im Westen sollte die Politiker mehr als bisher zu Stellungnahmen veranlassen, damit Menschenrechtsverletzungen beim Namen genannt und nicht vertuscht werden. Denn, wie schon gesagt, die Erfüllung der Menschenrechte ist der erste Schritt zur Entspannung. Entspannung aber hat den Menschen zu dienen. Sie dient ihnen aber nicht, wenn die Menschen im Osten Über alle Entspannungs- und Absichtsresolutionen, vergessen werden, wenn Entspannung Stillhalten heißt.“



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