{rsmediagallery tags="IK 52-14" thumb_width="125"}Dokumentation des Fluchtversuches am 12. Mai 1963. Fotos: © Arved Raabe, Berlin. 

Flucht aus dem „KZ“ DDR

Acht Bürger der DDR versuchten am 12. Mai 1963, gegen 13.00 Uhr, aus dem Machtbereich des „KZ“-Betreibers Walter Ulbricht durch Flucht nach Berlin (West) zu fliehen. Zu diesem Zweck benutzen die später von den DDR-Behörden als „Grenzdurchbrecher“ diffamierten Flüchtlinge einen Ost-BVG-Bus des Typs H6, der normalerweise auf der Route nach Berlin-Schöneberg verkehrt. Der Omnibus wurde von einem 190 PS starken Dieselmotor angetrieben und konnte eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h erreichen.

Mit hoher Geschwindigkeit fuhr K. auf der Scharnhorststraße in Richtung Ostberlin-Mitte und durchbrach mit dem 10 Tonnen schweren Bus den ersten Sperrzaun am „Kontrollpassierpunkt“ (KPP) Invalidenstraße. Dieser Sicherungszaun verlief beiderseitig der Bordsteinkante entlang der Invalidenstraße und sperrte den Übergang gegenüber den Bewohnern Ostberlins und dem Personal der Charité hermetisch ab.

Der Übergang Invalidenstraße befand sich östlich der Sandkrugbrücke am Spandauer Schifffahrtskanal und war seitens der sowjetzonalen Behörden für Bürger West-Berlins zugelassen, die auch noch nach dem 13. August 1961 einer Tätigkeit im sowjetischen Besatzungssektor (SBS) nachgingen. Zudem benutzten die Wachmannschaften der Roten Armee diesen Kontrollpassierpunkt, um zum sowjetischen Ehrenmal und dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis zu gelangen. Nach der Ermordung von Peter Fechter am 17. August 1962 war die Passage über den Checkpoint Charlie für die Sowjets zu gefährlich geworden, denn ihnen wurde die politische Verantwortung für den gemeinen und brutalen Mord an dem 19jährigen Maurergesellen zugeschrieben.

Aufgrund der Geschwindigkeit und der Schwerfälligkeit des 9,83 Meter langen Omnibusses gelang es K. nicht, sofort in die Invalidenstraße einzubiegen, sondern krachte auf den gegenüberliegenden Bordstein und blieb im Sperrzaun hängen. Es war keine einfache Aufgabe, den im VEB Kfz-Werk Ernst Grube in Werdau hergestellten Omnibus zu fahren, denn die Lenkung hatte noch keine Verstärkung. Trotz des einsetzenden Beschusses mit Mps und Gewehren durch sowjetzonale „KZ“-Wächter setzte K. das Fahrzeug zurück und fuhr in den ersten Slalom ein. Dabei geriet das Fahrzeug auf den Bürgersteig und prallte gegen einen Baum. Nochmals gelang es K., den Bus zurückzusetzen und den Slalom zu durchfahren. Vermutlich aufgrund der Schwerfälligkeit des für 34 Personen zugelassenen Omnibusses und des andauernden Beschusses gelang es K. allerdings nicht, den Bus durch die schmale Passage in der Panzersperrmauer zu steuern. K. setzte den Bus noch dreimal zurück, doch das Schalten mit dem unsynchronisierten Getriebe war ein zusätzliches Erschwernis und verschlang lebenswichtige Zeit. Trotz aller Mühen des zu diesem Zeitpunkt schon Schwerverletzten K., mit dem 2,5 Meter breiten Omnibus die Passage zu durchfahren, blieb IK 52-14 hoffnungslos verkeilt in der Panzersperrmauer stecken.

Lediglich zwei Berliner Polizisten und ein Angehöriger des Westberliner Zolls beobachteten das Geschehen. Einer davon war der junge Polizist Arved Raabe. Ohne Auftrag des Senats hatte der junge Polizist seinen Fotoapparat dabei und dokumentierte die Aktionen jenseits der Mauer bis zum Eintreffen drei weiterer Funkstreifenwagen und des Einsatzkommandos Tiergarten. Britische MP und Pressevertreter waren ebenfalls vor Ort. Trotz der 50 abgefeuerten Schüsse konnten keine Einschläge auf westlichem Territorium festgestellt werden. Von Berlin (West) aus konnte nur noch beobachtet werden, wie die Flüchtlinge unter starker Bewachung abgeführt wurden. Es musste auch Verletzte gegeben haben, denn drei Flüchtlinge wurden auf Bahren davongetragen.

Ca. 30 feldmarschmäßig ausgerüstete Sowjetzonen-Grenzpolizisten rückten um 13.20 Uhr mit einem LKW und einem Wasserwerfer an und besetzten den Übergang bis 18.40 Uhr. Um 14.25 Uhr wurde der Bus von einem Schützenpanzerwagen der NVA in den sowjetischen Besatzungssektor zurückgezogen. Zudem wurden sowjetische Offiziere beobachtet, die den „Tatort“ inspizierten. Da ab 14.40 Uhr die Sowjets den Übergang für mehrere Stunden lang mit einen Panzerspähwagen vollständig sperrten, wurde der gesamte grenzüberschreitende Verkehr zum Übergang Chausseestraße umgeleitet.

Nur weniger Meter von der Sektorengrenze entfernt stand auf West-Berliner Gebiet ein Schild des Berliner Senats mit einer Botschaft für Ulbrichts „KZ“-Wächter:

„Mord bleibt Mord, auch wenn er befohlen wird!“

Dieser Hinweis, auch wenn er gegenüber den SED-Betonköpfen wirkungslos blieb, hatte dennoch eine gewisse propagandistische Bedeutung, denn gerade die SED war angetreten, einen besseren deutschen Staat zu schaffen, in dem alle Sozialisten die besseren Deutschen und wo die Menschenrechte zu vollen Prozenten verwirklicht waren.

Zitat: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Quelle: Aus dem Schwur der von den amerikanischen Truppen befreiten Häftlingen aus dem KZ Buchenwald vom 19. April 1945.

Gerade aber die Machthaber dieses Staates traten die Menschenrechte mit den Füßen, indem Sie ihrer Bevölkerung die Bürgerrechte aberkannten. Artikel 13, Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet:

Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.

Um dieses Menschenrecht wurden die DDR-Bewohner von ihrer Arbeiter- und Bauern-Regierung schamlos betrogen. Wer dieses Recht dennoch einforderte, wurde drangsaliert, diskriminiert, weggesperrt oder auf die eine oder andere Weise zu Tode gebracht.

Die Verletzten wurden ins Krankenhaus der Volkspolizei in der Scharnhorststraße eingeliefert und dort vom Genossen Dr. Porsche untersucht. Bei G. K., dem Fahrer des Busses, diagnostizierte der Arzt sechs Schussverletzungen. Durch Schüsse wurde der rechte Oberarm und die rechte Schulter verletzt. Ein Oberarmschussbruch führte zur Lähmung des betroffenen Arms. Außerdem hatte K. zwei Schussöffnungen am Brustkorb rechtsseitig. Diese Schüsse verursachten einen Rippenbruch und führten zur Öffnung der Brusthöhle mit der Folge eines Blutergusses sowie dem Eindringen von Außenluft in den Brustraum. Des weiteren wurde K. durch einen Streifschuss an der rechten Hand und einen Oberschenkelsteckschuss an der rechten Seite verletzt.

Der Beifahrer M. wurde im Kugelhagel von zwei Schüssen getroffen. Die schwerere Verletzung bestand in einem Bauchsteckschuss mit Magen- und Leberdurchschuss. Die leichtere Verletzung war ein Steckschuss in der rechten Hand.

Der Flüchtling G. wurde von sechs Projektilen getroffen. Vier Schussöffnungen befanden sich am linken Gesäßteil und am Oberschenkel. Zwei Oberschenkeldurchschüsse rechtsseitig führten zu einem Oberschenkelschussbruch. Dr. Porsche formulierte deshalb die Befürchtung, das bei K. und M. mit ernsthaften Komplikationen zu rechnen ist und lehnte sofortige Verhöre der Verletzten durch das MfS aus gesundheitlichen Gründen ab.

Der Übergang Invalidenstraße blieb bis 18.40 Uhr in beide Richtungen gesperrt. An den innerstädtischen Übergängen Friedrichstraße, Bornholmer Straße, Heinrich-Heine-Straße, Chausseestraße und Sonnenallee lies die sogenannte Grenzpolizei ebenfalls demonstrativ Panzerspähwagen auffahren.

Der beschädigte Omnibus wurde gegen 23.00 Uhr zur Verwaltung Groß-Berlin überführt.

Da die gesamte Fluchtverhinderung östlich der Mauer ablief und kein Projektil auf Westberliner Territorium einschlug, wurde seitens der West-Berliner Polizei kein einziger Schuss zur Unterstützung oder Rettung der acht Flüchtlinge abgegeben.

 


Lit. 1 (Presse):

Flucht im Bus gescheitert. Alle Insassen verhaftet. Kölnische Rundschau, 13.05.1963

Lit. 2 (Presse):

Mauer-Durchbruch mit einem Bus im Kugelhagel gescheitert / Fünfzehn Ost-Berliner vor dem letzten Schlagbaum abgefangen / 50 Schüsse der Zonen-Posten / Mehrere Verletzte, Frankfurter Allgemeine, 13.05.1963

Lit. 3 (Presse):

Bullets Halt Flight of 12 in East Berlin, Herald Tribune, New York – Paris, European Edition, 13.05.1963