Ideale Projektionsfläche

Um Kunsttheorie ging es den Kreativen sicher nicht

In Spanien stirbt der greise Generalissimo Franco, die Amerikaner verlieren endgültig den Vietnamkrieg und in Berlin wird die 3. Generation des „Antifaschistischen Schutzwalls“ installiert. Man schreibt das Jahr 1975. Die neue Mauer - 3,6 Meter hoch und aus Stahlbetonsegmenten gefertigt - sichert nun die 156 Kilometer lange Grenze zwischen der DDR und West-Berlin. Eine hellgraue, glatte Fläche an der die Künstler der eingeschlossenen Stadt ein bisschen Anarchie mit dem Farbtopf proben können. Es entsteht ein buntes, grelles, schräges Band, das jenseits des Machtbereichs Westberliner Ordnungskräfte auf DDR-Gebiet liegt. Natürlich waren die unautorisierten Malereien im öffentlichen Raum hier, wie überall, illegal, über die DDR-Oberen konnten aus Mangel an Personal, Zeit und Vertrauen in ihre Grenzer, die die Gelegenheit zur Flucht hätten nutzen können, nur punktuell mit Übermalungen eingreifen.

Während die wilden Phantasien der autonomen Szene und der Hausbesetzer, die an Westberliner Brandwänden ihren Niederschlag gefunden hatten, als Erinnerungen an eine politische Kultur, die man offiziell vergessen wollte, gewissenhaft ausgelöscht wurden, fiel die „Mauerkunst“ erst dem Abriss zum Opfer. Die Mauer war zwar im Sinne des Denkmalschutzes schützenswert, musste aber ebenfalls ideologischen und ökonomischen Interessen weichen. Heute stehen nur mehr klägliche Rudimente, die die Vorstellungen eher verfälschen als erhellen. Umso verdienstvoller ist der Entschluss des Böhlau-Verlags, eine umfassende Dokumentation zur Mauer als Bildträger mit Anekdoten und Gestalten herauszubringen, die mit ihrer Geschichte untrennbar verknüpft sind.

Um Kunsttheorie ging es bei den kreativen Selbstverwirklichungen an der Mauer sicher nicht, sondern um etwas Leuchtendes, Freches, Romantisches, um moralische Entrüstungen, Griffe in die biblische Zitatkiste, um Klosprüche oder Proteste auch gegen westdeutsche Kontrollbestrebungen wie die Volkszählung. Für all das stand ab 1975 eine ideale Projektionsfläche bereit, die zudem noch die Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt markierte. Ein besserer Ort für Kunst war kaum vorstellbar. Schon die Topographie garantierte Beachtung und ein Potential an Interpreten, die manchen Kalauer und manche Liebeserklärung politisch überhöhten.

Für die Künstler selbst, auch für Berühmtheiten wie Keith Haring oder Rainer Fetting, war die Diskursebene allerdings weitgehend eine andere: „Das Bild zu malen, hat mir Spaß gemacht“, kommentierte etwa Birgitt Scharpf ihr ,,Menschenknäuel“ am Leuschnerdamm. Und Christoph Bouchet ging es nach eigenen Worten um ein „Vergegenständlichen“ der Mauer, während sein Mitstreiter Thierry Noir daran arbeitete, sie transparent“ zu machen.

Auch in Ralf Gründers Text bleibt die Differenzierung ein wenig auf der Strecke. Sein verbitterter Springer-Presse-Jargon katapultiert den Leser zurück in die Terminologie des Kalten Krieges: Alle Kunst an der „Schandmauer“ diente zunächst einmal dazu, die Verletzbarkeit der Grenze des ,,Zonen-Regimes zu zeigen und es einer „permanenten Lächerlichkeit“ preiszugeben.

Die „Mauer des Hasses“ ist für Gründer nur die „sogenannte“ Grenze des „KZ-Staates“ DDR, die von „KZ-Wächtern in den Diensten des verlogenen „Diktators“, des „Spitzbarts“ Ulbricht, bewacht wird, die aufgepeitscht durch „Hetz- und Propagandasendungen „ihrem „Kampfauftrag“ nachkommen und Fluchtlinge „zu Tode hetzen“. In diesem Ton beginnt er, und so schließt er, als die „marode DDR-Greisenregierung in einen Strudel des definitiven Untergangs“ hineingezogen wird und der ,,Unterdrückungsdiktatur“ 1989 ein Ende bereitet wird. Ein Band über das „farbenfrohe Kleid“ der Mauer birgt sich die Gefahr, zu harmlos daherzukommen, aber eine Sprache, wie sie hier reanimiert wird, ist kaum das Mittel, dem entgegenzuwirken.

Für die Bürger der DDR lag mehrheitlich die Mauer irgendwo in der Ferne, war bestenfalls von weitem zu erspähen; für die Bürger West-Berlins dagegen war sie jeden Tag greifbar. Die siebziger und achtziger Jahre bleiben für die Geschichte der ummauerten Metropole zweifellos eine Ära, die den Ausdruck „einzigartig“ verdient, die von Neuen Wilden, von Leuten wie Nina Hagen und David Bowie geprägt wurde und deren Atmosphäre weit über deutschen Grenzen hinaus in den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ und dem „Himmel über Berlin“ nachklang.

Und wenn man als Westberliner Student, wie es Ralf Gründer damals war, nachts in einem Zimmer zwischen zwei Hinterhöfen hockte, dann konnte man auch ganz anders empfinden als er, der wohl vor allem bitter an die verblendeten Grenzer dachte, die in ihm nur den imperialistischen Todfeind erkannten. Man konnte auch über den Rias schmunzeln „die freie Stimme des freien Westens“, die auf ihre Art Propaganda betrieb. So oder so, eines ließ sich nicht leugnen: Die Mauer war nicht nur bedeutendste Touristenattraktion der Stadt, sie war auch Stein des Anstoßes, Herausforderung und Grundlage für die trotzige Lebenslust und das elegische Lebensgefühl West-Berlins. Einen Hauch davon vermag das Buch immerhin zu vermitteln.

 


Quelle: Boris von Brauchitsch, Antiquitätenzeitung (06.07.2007)
Tipp:
Ralf Gründer - Verboten: Berliner Mauerkunst. Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 2007, 352 S. mit Farbabb., 34.90 €