„Die Regierungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages streben bereits seit mehreren Jahren nach einer Friedensregelung mit Deutschland. Sie gehen dabei davon aus, daß diese Frage längst spruchreif ist und keinen weiteren Aufschub duldet. Wie bekannt, hat die Regierung der Sowjetunion mit vollem Einverständnis und voller Unterstützung aller Staaten, die der Warschauer Vertrags-Organisation angehören, den Regierungen der Länder, die am Krieg gegen das hitlerfaschistische Deutschland teilnahmen, den Vorschlag gemacht, mit den beiden deutschen Staaten einen Friedensvertrag abzuschließen und auf dieser Grundlage die Frage Westberlin durch die Verleihung des Status einer entmilitarisierten Freien Stadt zu lösen. Dieser Vorschlag berücksichtigt die reale Lage, die sich in der Nachkriegszeit in Deutschland und in Europa herausgebildet hat. Er ist nicht gegen irgendwessen Interessen gerichtet und hat nur den Zweck, die Überreste des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen und den Weltfrieden zu festigen.

Die Regierungen der Westmächte haben sich bisher nicht bereit gezeigt, durch Verhandlungen aller interessierten Länder zu einer vereinbarten Lösung zu kommen. Mehr noch: Die Westmächte beantworteten die von Friedensliebe getragenen Vorschläge der sozialistischen Länder mit verstärkten Kriegsvorbereitungen, mit der Entfachung einer Kriegshysterie und mit der Androhung militärischer Gewalt. Offizielle Vertreter einer Anzahl von NATO-Ländern haben eine Verstärkung ihrer Streitkräfte und Pläne einer militärischen Teilmobilmachung bekanntgegeben. In einigen NATO-Ländern wurden sogar Pläne einer militärischen Invasion des Hoheitsgebietes der DDR veröffentlicht.

Die aggressiven Kräfte machen sich das Fehlen eines Friedensvertrags zunutze, um die Militärisierung Westdeutschlands zu forcieren und in beschleunigtem Tempo die Bundeswehr zu verstärken, wobei sie diese mit den modernsten Waffen ausrüsten. Die westdeutschen Revanchisten fordern offen, daß ihnen Kern- und Raketenwaffen zur Verfügung gestellt werden. Die Regierungen der Westmächte, die die Aufrüstung Westdeutschlands auf jede Weise begünstigen, verstoßen damit gröblichst gegen die wichtigsten internationalen Abkommen, die die Ausrottung des deutschen Militarismus und die Verhütung seines Wiedererstehens in irgendeiner Form vorsehen.

Die Westmächte haben sich nicht nur nicht um die Normalisierung der Lage in Westberlin bemüht, sondern fahren fort, es verstärkt als Zentrum der Wühlarbeit gegen die DDR und andere Länder der sozialistischen Gemeinschaft zu mißbrauchen. Es gibt auf der Erde keinen Ort, wo so viele Spionage- und Wühlzentralen fremder Staaten konzentriert waren und wo sie sich ungestraft betätigen können wie in Westberlin. Diese zahlreichen Wühlzentralen schleusen in die DDR Agenten ein, damit sie verschiedene Diversionen unternehmen. Sie werben Spione an und putschen feindliche Elemente zur Organisation von Sabotageakten und Unruhen in der DDR auf.
Die herrschenden Kreise der Bundesrepublik und die Spionageorgane der NATO-Länder benutzen die gegenwärtige Verkehrslage an der Westberliner Grenze, um die Wirtschaft der DDR zu unterhöhlen. Durch Betrug, Korruption und Erpressung veranlassen Regierungsorgane und Rüstungskonzerne der Bundesrepublik einen gewissen labilen Teil von Einwohnern der DDR, nach Westdeutschland zu gehen. Diese Betrogenen werden in die Bundeswehr gepreßt, sie werden in großem Umfang für Spionageorgane verschiedener Länder angeworben, worauf sie als Spione und Sabotageagenten wieder in die DDR geschickt werden. Für derartige Diversionstätigkeit gegen die DDR und die anderen sozialistischen Länder ist sogar ein Sonderfonds gebildet worden. Der westdeutsche Kanzler Adenauer hat unlängst die NATO-Regierungen aufgefordert, diesen Fonds zu vergrößern.

Es ist charakteristisch, daß sich die von Westberlin ausgehende Wühltätigkeit in letzter Zeit verstärkt hat, und zwar gerade seitdem die Sowjetunion, die DDR und die anderen sozialistischen Länder Vorschläge für die unverzügliche Friedensregelung mit Deutschland gemacht haben. Diese Wühltätigkeit schädigt nicht nur die DDR, sondern berührt auch die Interessen der anderen Länder des sozialistischen Lagers. Angesichts der aggressiven Bestrebungen der reaktionären Kräfte der Bundesrepublik und ihrer NATO-Verbündeten können die Warschauer Vertragsstaaten nicht umhin, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ihre Sicherheit und vor allem die Sicherheit der DDR, im Interesse des deutschen Volkes selbst zu gewährleisten.

Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR, an alle Werktätigen der DDR mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins, einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird. Selbstverständlich werden diese Maßnahmen die geltenden Bestimmungen für den Verkehr und die Kontrolle an den Verbindungswegen zwischen Westberlin und Westdeutschland nicht berühren.

Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten verstehen natürlich, daß die Ergreifung von Schutzmaßnahmen an der Grenze Westberlins für die Bevölkerung gewisse Unbequemlichkeiten schafft, aber angesichts der entstandenen Lage trifft die Schuld daran ausschließlich die Regierung der Bundesrepublik. Wenn die Westberliner Grenze bisher offengehalten wurde, so geschah dies in der Hoffnung, daß die Westmächte den guten Willen der Regierung der DDR nicht mißbrauchen würden. Sie haben jedoch unter Mißachtung der Interessen des deutschen Volkes und der Berliner Bevölkerung die jetzige Ordnung an der Westberliner Grenze zu ihren heimtückischen Wühlzwecken ausgenutzt. Der jetzigen anomalen Lage muß durch eine verstärkte Bewachung und Kontrolle an der Westberliner Grenze ein Ende gesetzt werden.

Zugleich halten es die Regierungen der Teilnehmerländer des Warschauer Vertrags für notwendig zu betonen, daß die Notwendigkeit dieser Maßnahmen fortfällt, sobald die Friedensregelung mit Deutschland verwirklicht ist und auf dieser Grundlage die spruchreifen Fragen gelöst sind.“

Quelle: Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin, Hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn und Berlin, 07.09.1961, Dok. Nr. 152 (Aus „Neues Deutschland”, [Ostberlin], Nr. 222, vom 13. August 1961)


Lit.-Tipp 1: Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin / hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdt. Fragen Bonn und Berlin. - 2., durchges. Aufl. - [S.l.] : Bundesdr., 1962. - 159 S. : Ill., graph. Darst., Kt.
Lit.-Tipp 2: Der Bau der Mauer durch Berlin : die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin / hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. - 1. erg. Aufl. ; faks. Nachdr. - Bonn : Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 1988. - 159 S. : Ill., graph. Darst., Faltbl. - Faks. Nachdr. der Denkschrift von 1961
Lit.-Tipp 3: Berlin, 13. August : Sperrmassnahmen gegen Recht und Menschlichkeit / hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdt. Fragen. - Essen : Girardet, 1961. - 49 S. : zahlr. Ill.
Lit.-Tipp 4: Der Bau der Mauer durch Berlin : die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13.8.1961 in Berlin ; Faksimilierter Nachdruck der Denkschrift von 1961. - Bonn : Bundesministerium, 1986. - 159 S.