Teil 3: Graffiti und Mauerkunst: Abschied von der gesprengten Versöhnungskirche durch symbolische Handlungen.

Kamera, Ton und Edit: © Ralf Gründer, Berlin (27.02.2016)
Produktion: Gründer, Just, Pahl, 2023 (DDT - Das freie Dokumentarfilm-Team)

 

1985 kam es auf Anweisung der DDR Regierung  zur Sprengung der Versöhnungskirche im Todesstreifen der Berliner Mauer.

Am 22. Januar 1985 wurde bei großer medialer Aufmerksamkeit zuerst das Kirchenschiff, dann am 28. Januar 1985, der Turm vor laufenden Kameras gesprengt.

Kurz vor dem Abscheidsfeierlichkeiten der ev. Versöhnungsgemeinde am 23. bis zum 25. Mai (Sonntag Trinitatis) geschah die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (26. April 1986, um 01.23 Uhr) .

Unter dem Titel „Mauersprung“ feierte die Versöhnungsgemeinde  einen dreitägigen (trinitarischer) Abschiedsgottesdienst von ihrer 1985 gesprengten Kirche.

Am 23. Mai, gegen 19.30 Uhr, sprach Pfarrer Manfred Fischer von der Aussichtsplattform vor der Mauer (Bernauer Ecke Ackerstr.) durch seine Mauerrede (-predigt) zu seiner Gemeinde.

Wir sind zusammen und feiern im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Herzlich Willkommen.
Wir feiern ein Fest.
Drei Tage lang.

Ich begrü­ße besonders die Gäste, die von weit hergekommen sind.



Liebe Leute - Liebe Freunde.

Wir sind im Freien zusammen - open air. Sie wollen Musik hören - Sie wollen einen Tanz sehen. Paula Löffler tanzt und bringt ihr Gefühl der Bedrohung zum Ausdruck. Rainer Scharwieß hat, was er uns sa­gen will, in einer Komposition zum Ausdruck gebracht. Sie hören die Nathanael-Kantorei und das Kammerorchester.

Wir von der Versöhnungsgemeinde wünschen uns aber auch, daß Sie diesen Ort erleben: seine Aussage. Diese Mauer, die Sie vor Augen haben. Diese Häuser. Was sich auf der Straße abspielt und vor und hinter der Mauer, während wir nach Aussagen ringen - mit Tanz und Musik.

Und nun der Anlaß. Wir wollen, wir müssen Abschied nehmen von ei­ner Kirche, die uns lieb und teuer war.

Hier hinter mir stand unsere alte Versöhnungskirche.

Anfang des letzten Jahres haben sich dort, wo Sie jetzt stehen, die Journalisten gegenseitig auf die Füße getreten. Es war ein Geschiebe und Gedränge. Die Weltpresse war anwesend. Ein Spektakulum - ein Schauspiel hatte sie hergezogen. Die Sprengung der Versöh­nungskirche. Am nächsten Tag lauteten die Schlagzeilen: „Versöh­nungskirche weg für Todesstreifen - Freies Schußfeld: Kommuni­sten sprengen Versöhnungskirche - Finger Gottes abgehackt". Das Ereignis schlug Wellen. Bis Bonn. Im „Bericht zur Lage der Nation" erklärte der Kanzler: „Das Ereignis ist weit mehr als nur eine Impres­sion zur Lage in Deutschland. Sie ist Symbol. Die Sprengung der Kir­che zeigt, wie lang, wie schwer und wie ungewiß der Weg ist, der noch vor uns liegt, um mit der Teilung Europas auch die Spaltung Deutschlands zu überwinden." Es wurden viele solcher großen Wor­te gemacht damals. Und dann ging man wieder zu anderen Tagesord­nungen über.

Sie werden sich denken können, daß wir von diesem Abschied an­ders betroffen sind. Die kleine Versöhnungsgemeinde. Die Wenigen, die ein solches „Gotteshaus" hätten nutzen wollen, zum Singen - Klagen - Danken und Beten.

Wir müssen uns fragen, was der Fall dieses Hauses für uns und für heu­te bedeutet. Wenn schon ein Symbol, dann wofür?

Der Bundeskanzler meinte, es drängten sich „schmerzliche Gedan­ken" auf. Nun, was schmerzt ihn denn - was tut uns weh?

Für die Schwestergemeinde „Versöhnung" in Marzahn, für die Ad­ventsgemeinde in Ost-Berlin war es schmerzlich, daß sie keine geeig­neten Räume für ihre Gemeindearbeit hatten. Jetzt entstehen dort zwei Gemeindehäuser.

Sie sollen wissen: Für das Gelände im Grenzstreifen wurden zwei Grundstücke zur Verfügung gestellt. Zum ersten mal entsteht mit ei­nem Neubaugebiet in der DDR ein evangelisches Gemeindehaus. Das allerdings fand kaum Eingang in unseren Nachrichten. Und das ist schmerzlich, denn zu dem Namen der Kirche hätte das wohl ge­paßt. Schmerzlich aber vor allem ist für uns die Erkenntnis unserer Schuld. Diese Kirche kam uns teuer zu stehen.

Beim Ge(h)-Hör-Spiel (einem akustischen Stadtteilrundgang um 18.00 Uhr) haben Sie aus der Geschichte der Ackerstraße einiges erfahren.

Hier stand Meyer's Hof. Hierüber sagte Heinrich Zille: „Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt".

Hier standen Kinder auf dem Hungerstrich - für Kartoffeln. Das ist alles noch nicht lange her. Und Wanda Melzow könnte mit ihren 102 Jahren noch mehr solcher Geschichten erzählen, die sie erlebt hat. All die Not ballte sich zusammen zum „roten Wedding". „Roter Wed­ding, grüßt Euch Genos'sen! Haltet die Fäuste bereit!" - Doch was fiel der Kirche, unserer Kirche hier ein? Einen Turm musste sie bauen. Und sich bezahlen lassen vom Kaiser. Selbst hatte sie kaum Mittel - aber möglichst hoch und möglichst imposant sollte er werden. Sie wollten Eindruck machen im roten Wedding. Es gibt eine höhere Macht, so wollte man zeigen, die sorgt im Jenseits für ein besseres Le­ben. Alles schön geordnet - von oben nach unten. Was tagtäglich vor den Leuten lag, musste halt ertragen werden. Versöhnlich - nicht kämpferisch - „Lasset Euch versöhnen mit Gott" - So kam die Kirche zu ihrem Namen.

Das hat vielen Menschen - vielleicht auch vielen von Ihnen - die Kir­che unglaubwürdig gemacht. Das kam uns teuer zu stehen - auf lan­ge Sicht. Hier ging nichts an uns vorüber. Auch das sollen Sie wissen: Am Ostersonntag 1933 wurde der Gottesdienst der Nazichristen aus dieser Kirche im Rundfunk übertragen - mit neuester Technologie. Es war eine Siegesfeier für ein auferstandenes Deutschland. Sie mün­dete in den Ruf: „Christen an die Front."

Welche furchtbare Bedeutung dieser Ruf bekommen sollte, war vie­len Christen nicht klar. Und daß die Kirche einmal selbst auf der Grenze stehen würde, daran hätte nie einer gedacht. Nein - einige waren schon hellsichtig, wie Dietrich Bonhoeffer, auch einige in die­ser Gemeinde. Aber vor allem der Rote Wedding. Er hatte erkannt und gesungen: „Drohend stehen die Faschisten drüben am Hori­zont". Aber die Bedrohung wurde nicht erkannt. Die Ursachen nie erforscht. Nur vor den Folgen stand man dann schockiert und ohn­mächtig,

  • bei der Industrialisierung im letzten Jahrhundert
  • beim Sturz der Weimarer Republik
  • bei den beiden Weltkriegen und ihren Folgen, zu denen auch diese Mauer gehört.

Die alte Kirche hätte ein Symbol sein können, gerade als einsamer, unzugänglicher Turm. Dafür, daß Gott die Sünde der Väter heim­sucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Dieses Symbol war sie nie. Die Menschen, die mit Bussen hierher gefahren kom­men, die Touristen sahen nur die Mauer.

Die Kirche ist gesprengt worden, in sich zusammengefallen, wie der Geist, der sie erbaute.

Und so nehmen wir nicht nur von diesem Gebäude Abschied - nach­dem die Wellen sich gelegt haben, sondern nach einem langen Nach­denken nehmen wir auch Abschied von dem, was dieses Gebäude symbolisierte.

  • Es war uns lieb und teuer, daß wir die „Mehrheit" hinter uns wuß­ten; es ist ein schönes Gefühl, bei der Mehrheit mitzumarschie­ren.

Wir sind jetzt Minderheit.

  • Es war uns lieb und teuer, daß wir einen leichten Zugang zur Macht hatten.

Wir haben diesen Rückenwind nicht mehr.

Selbst eine Prozession, wie wir sie am Sonntag (25. Mai 1986) vorhaben, stößt zunächst auf Mißtrauen bei Behörden.

  • Es war uns lieb und teuer, daß wir wussten: „Gott mit uns", aber diese Heilsgewißheit hat sich auf den Koppelschlös­sern der Soldaten ad absurdum geführt.

Aber unsere Besinnung greift heute weit über die Veränderung für die Gemeinde hinaus. Das Überleben der Kirche ist zweitrangig vor dem Überleben der Welt. Wir nehmen in diesen Tagen Abschied von einem Weltbild, das viele Menschen - gerade meiner Generation - geprägt hat.

  • Es war uns lieb und teuer, auf Wissenschaft und Technik zu bauen. Das Wort „Fortschritt" hatte für mich immer einen guten Klang, „strahlende" Zukunft, „strahlender" Sieger, „strahlendes" Weiß.

Aber nun können wir endgültig wissen, wir sind so weit fortgeschritten, daß wir am Abgrund stehen.

Aus der Geschichte unserer Gemeinde könnten wir lernen, 'wie's oft geht.' Was wir planen und was daraus wird.

Wie Ursachen nicht gesehen werden, aber die Folgen trotzdem ein­treten.

Jetzt ist die Bedrohung übergroß geworden, und dieser Abschied wird uns viel kosten:

Der lange Abschied von der Atomrüstung, der lange Abschied von der Atomkraft.

So oder so.

Die atomare Bedrohung der ganzen Schöpfung ist für uns ja leicht zu verdrängen.

Ich habe in einem Tierfilm gesehen, wie sich Kaninchen vor der Schlange verhalten. Das Tierchen lief weg. Geriet in eine Ec­ke und saß dort, ausweglos. Die Schlange hob drohend den Kopf, da fing das Kaninchen an, sich zu putzen... dann wurde es gefressen. „Übersprunghandlung" nennt man solche Putzaktionen.

Die Bedro­hung für uns hat sich auch so groß erhoben. Ich fürchte, es kommt auch bei vielen wieder zu solchen Übersprunghandlungen - vorm Gefressenwerden.

Als ich am Muttertag zu Hause anrief, kam meine Mutter gleich zum Thema: „Was sagst Du denn dazu?" Wozu, musste ich erst fragen, denn es war ja Muttertag und dazu der Anruf. „Nun, das da mit dem Atom. Wir können unsere schöne Petersilie wegschmeißen. Nach dem langen Winter. Wir haben uns so gefreut." Ja - bei Petersilie wird es klar.

Albert Einstein konnte warnen - umsonst, aber Petersilie - das ist deutlich.

Mancher mag selbst jetzt noch denken: „Ach du meine Güte, wie oft habe ich schon gehört: Es ist 5 Minuten vor 12. Und dann kam auch schon bald die Entwarnung". Auch jetzt kommt sie wieder, diese Entwarnung Und diesmal die gleichen Sprüche auf beiden Seiten dieser Mauer. Wo ist denn Entwarnung, die wir wirklich glauben kön­nen?

Ich weiß nur, wer auf den Ruf „Kurz vor 12" nicht hört, der wird Schlag 12 voll getroffen.

Wir wollen leben.

Darum - an dieser Mauer, die lächerlich geworden ist vor dem Aus­maß der Gefahr - darum schließt Euch zusammen.

Wer je Liebe erfahren hat in seinem Leben, der suche sich Menschen, Gruppen, denen er vertrauen kann.

Vielleicht findet Ihr Heimat auch in einer Gemeinde.

Wir laden Euch ein, den Sprung zu wagen über die Mauern, die uns trennen.


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Tipp 1: Berliner Mauerkunst : eine Dokumentation / von Ralf Gründer. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2007. - 352 S. : überw. Ill. ; 22 cm.
ISBN 978-3-412-16106-4 [AMAZON-LINK]

Tipp 2: Berliner Mauermalerei : ein dokumentarischer, multimedialer Spaziergang entlang der Berliner Mauer in der Zeit vor und während des Mauerfalls 1989 ; [CD-ROM] [CD-ROM]. - Berlin : Gründerzeit Verl., [1999]. - 1 CD-ROM + 1 Beih. - Systemvoraussetzungen: Windows 95/98; 486 PC 100 MHz; 32 MB RAM, besser 112 MB; Soundkarte 16 Bit; CD-ROM-Laufwerk (double-speed); Grafikkarte 800x600 Pixel, True Color. - USK: Info- Lehrprogramm gemäß § 14 JuSchG / Eigenvergabe 109j.
ISBN 3-9806893-0-1 [AMAZON-LINK]

Tipp 3: Niemand hat die Absicht ... : Screenshot-Fotografie aus der Kameraarbeit von Herbert Ernst ; gedreht in den Jahren 1961 und 1962 im geteilten Berlin ; eine Dokumentation / von Ralf Gründer. - 3. Auflage. - Berlin : Berliner Wissenschafts-Verlag, 2016. - 456 Seiten : Illustrationen ; 20.8 cm x 21 cm.
ISBN 978-3-8305-3673-4 [AMAZON-LINK]