Es wenden sich an Sie der ehemalige Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und spätere Chef des Generalstabes der Streitkräfte der UdSSR und Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages von 1977 bis 1989, Marschall der Sowjetunion V. G. Kulikow, und der Chef des Stabes der Vereinten Streitkräfte der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages von 1976 bis 1989, Armeegeneral A. I. Gribkow.

Mit Aufmerksamkeit und Besorgnis verfolgen wir die Prozesse in der BRD gegen frühere Hoheitsträger der DDR, insbesondere gegen die Angehörigen der NVA und der Grenztruppen der DDR im Zusammenhang mit den tragischen Folgen von Grenzverletzungen. Wir bringen unsere Anteilnahme den Angehörigen der Opfer zum Ausdruck und möchten gleichzeitig Ihre Aufmerksamkeit auf einige Umstände lenken, die uns aufgrund unserer militärischen Funktion und Verantwortung bekannt sind bzw. an denen wir persönlich mitgewirkt haben.

1. Mit dem am 9. Mai 1955 vollzogenen Beitritt der BRD in die NATO und dem Beitritt der DDR am 15. Mai des gleichen Jahres in die Organisation des Warschauer Vertrages wurde die Spaltung Deutschlands endgültig zementiert.

Demnach hat also Mitte der 50er Jahre die »innerdeutsche Grenze« endgültig aufgehört zu existieren.

Ab diesem Zeitpunkt standen sich zwei Staaten nicht nur durch ihre Politik, ihre machtpolitischen Strukturen und ihre Vorstellungen über die Zukunft als unversöhnliche Gegner gegenüber, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Mitgliedschaft in Militärblöcken, die von über Philosophie her und ihren Aktionen konfrontativ angelegt waren. Ausgehend davon wurde die Staatsgrenze der DDR zur BRD von den Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und vor allem von der Führung der Sowjetunion als eine Grenze zwischen zwei sich feindlich gegenüberstehenden militärpolitischen Blöcken betrachtet.

Und behandelt.

Es war die sensible Trennlinie zwischen den beiden mächtigen militärischen Gruppierungen, deren zuverlässige militärische Sicherung eine erstrangige Bedeutung hatte. Deshalb darf man die Ereignisse an dieser Grenze in den Jahren von 1961 bis 1989 nicht aus dem historischen Kontext des Kalten Krieges und der ständigen Konfrontation der bedeutenden militärischen Potentiale herausreißen, die die Lage auf unserem Kontinent in dieser Periode kennzeichneten.

2. Alle wichtigen Entscheidungen, die mit den Problemen der Verteidigung der DDR einschließlich der Grenzsicherung im Zusammenhang standen, wurden unter Berücksichtigung der Interessen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages getroffen.

Deshalb waren auch die Sicherungsmaßnahmen vom 13. August 1961 in Berlin das Ergebnis eines Beschlusses des Politisch Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages.

Diese Grenze und die Grenzsicherungsmaßnahmen hatten in der Periode des Kalten Krieges eine große Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa.

Deshalb wurde von unserer, von sowjetischer Seite, immer aktiver und wirksamer Einfluß auf alle Grenzsicherungsmaßnahmen genommen, der pioniermäßige Ausbau der Staatsgrenze eingeschlossen.

Ausgehend davon wurden die Fragen des Grenzregimes sowohl durch Vereinbarungen zwischen der DDR und der UdSSR als auch im Rahmen des Warschauer Vertrages geregelt. Die DDR als unser wichtigster Verbündeter im Warschauer Vertrag hat sich immer und mit großer Disziplin im Interesse unseres Bündnisses den »Empfehlungen« und »Bitten«, die faktisch Weisungen darstellten, untergeordnet.

3. Das Oberkommando der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages war immer über Stärke, Struktur, Bewaffnung und Ausbildung der Grenztruppen der DDR sowie alle Grenzsicherungsmaßnahmen einschließlich des pioniermäßigen Ausbaus der Staatsgrenze informiert. Auf Weisung der sowjetischen militärpolitischen Führung haben wir aktiv Einfluß auf diese Maßnahmen genommen. Da die Nationale Volksarmee und die Grenztruppen der DDR im Verteidigungszustand dem Oberkommandierenden der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland unterstellt worden wären und im Bestand der von ihm geführten Front ihre Aufgaben zu erfüllen gehabt hätten, nahmen das Oberkommando und der Stab der Vereinten Streitkräfte Einfluß auf die Ausbildung der Grenztruppen und den Ausbau der Staatsgrenze. Alle wichtigen Unterlagen über die Staatsgrenze einschließlich der Minenfelder befanden sich beim Stab der GSSD.

Es gab keinen Regimentskommandeur, Divisionskommandeur oder Armeebefehlshaber, der nicht regelmäßig mit den Offizieren der Grenztruppen »seinen Grenzabschnitt« inspiziert hätte. 70 Prozent der an der Grenze der DDR zur BRD eingesetzten Grenztruppen wären im Verteidigungsfalle den sowjetischen Kommandeuren und 30 Prozent den Divisionskommandeuren der NVA unterstellt worden.

Da die 45.OOO Angehörigen der Grenztruppen der DDR, auch wenn sie im Frieden nicht zu den vereinten Streitkräften gehörten, in ihren operativen Plänen zu den Gefechtselementen gezählt wurden und ihre konkreten Aufgaben hatten, wurden in den Befehlen und Direktiven des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte konkrete Aufgaben für die Verteidigung und Sicherung der Staatsgrenze und für das Zusammenwirken der Landstreitkräfte mit den Grenztruppen gestellt. Aus diesem Grund nahmen die Grenztruppen an gemeinsamen Übungen der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee teil.

Der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte und sein Stab waren immer durch den Vertreter des Oberkommandierenden bei der NVA der DDR über die Lage an der Staatsgrenze und über schwerwiegende besondere Vorkommnisse im Grenzgebiet informiert. Dieser sowjetische General, der den Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages bei der NVA vertrat und im Verteidigungsministerium der DDR arbeitete, erhielt jeden Tag um 8.00 Uhr die operative Tagesmeldung; nahm an allen Kollegiumssitzungen und Kommandeurstagungen teil und hatte das Recht, Kontrollen in den Teilstreitkräften und bei den Grenztruppen durchzuführen.

4. In den Jahren von 1977 bis 1989 waren wir, der Oberkommandierende und der Chef des Stabes der Vereinten Streitkräfte, aufgrund unserer militärischen Funktionen im Warschauer Vertrag jährlich zwei oder dreimal, manchmal auch öfter, in der DDR. Bei den Zusammenkünften mit der Partei- und Staatsführung der DDR, auf denen regelmäßig auch Fragen der Grenzsicherung und die Lage an der Staatsgrenze behandelt wurden, konnten wir uns davon überzeugen, mit welch großer Verantwortung die DDR an diese Fragen heranging.

Ihr Hauptanliegen bestand darin, für Ruhe und Ordnung an der Grenze zu sorgen und trotz der vielen Anschläge keine Provokationen zulassen. Nicht nur wir, das Oberkommando der Vereinten Streitkräfte und die führenden Militärs der Armeen des Warschauer Vertrages, sondern auch die Politiker unserer Länder haben immer wieder mit großer Hochachtung den politisch verantwortungsvollen und schweren Dienst der Grenztruppen der DDR gewürdigt. Immer wieder wurde von sowjetischer Seite unterstrichen: »Dieser Dienst an der Trennlinie zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist echter Friedensdienst ist Pflichterfüllung im Interesse des Warschauer Vertrages.«

5. Die DDR war ein souveräner Staat, Mitglied der UNO und von 138 Staaten diplomatisch anerkannt. Sie war auf allen Gebieten souverän - aber nach unserer Einschätzung nicht auf militärpolitischem und militärischem Gebiet.

Dafür gab es zwei Gründe:

(1) die exponierte militärgeographische Lage der DDR in Europa als Vorposten des Warschauer Vertrages und die dortige Präsenz einer 500.000 Mann starken, in ihrer Kampfkraft unvergleichlichen Elitegruppierung der sowjetischen Truppen, ausgerüstet mit modernster Bewaffnung und Ausrüstung einschließlich von Kernwaffen auf dem Territorium der DDR. Dadurch bedingt verlief der vordere Rand der ersten strategischen Verteidigungslinie der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages entlang der Staatsgrenze der DDR und der BRD.

Deshalb hatte die sowjetische Seite auch das militärische Sagen auf dem Territorium der DDR.

(2) die feste Eingliederung der DDR und ihrer bewaffneten Organe in die Militärorganisation des Warschauer Vertrages sowie die Einbindung der NVA und der Grenztruppen der DDR im Verteidigungsfalle in die Front der GSSD, die von Moskau gestellte Aufgaben zu erfüllen hatte.

Deshalb war die Organisation der Landesverteidigung der DDR, deren Stärke, Bewaffnung, Ausrüstung, Dislozierung und Ausbildung stets den Ausgangsorientierungen aus Moskau untergeordnet.

Diese beiden Faktoren und andere zum Teil noch aus der Besatzungszeit rührende Fragen waren die Ursachen dafür, daß die DDR auf militärischpolitischem Gebiet nicht souverän war.

6. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen war darum sowohl die politische als auch die militärische Führung der DDR nichtfrei in ihren Entscheidungen.

Die Führung der DDR konnte an der Grenze zur BRD und zu Westberlin eigenständig nichts unternehmen. Jegliche Veränderung der Ordnung an der gemeinsamen Grenze der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages erforderte die Abstimmung mit ihm, das heißt mit den höchsten Organen seiner Teilnehmerstaaten.

Alleinige Entscheidungen der Führung der DDR in diesen Fragen waren ausgeschlossen, da Alleingänge die Interessen des Warschauer Vertrages berührt und ihn dadurch bedroht hätten.

Das wäre von Paktmitgliedern, in erster Linie von der Sowjetunion, niemals zugelassen worden.

Wir halten es für unsere Pflicht, als hochrangige Vertreter der Organisation des Warschauer Vertrages unseren Standpunkt zu den von uns angesprochenen Fragen darzulegen.

Wir geben der Hoffnung Ausdruck, daß unseren Argumenten die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird.

Moskau, den 7. Juni 1996

Kulikow

Marschall der Sowjetunion

Gribkow

Armeegeneral der Sowjetarmee

 


Tipp 1; Die Grenzen der DDR : Geschichte, Fakten, Hintergründe / Klaus-Dieter Baumgarten und Peter Freitag (Hrsg.). - 2., korrigierte Ausg. - Berlin : Ed. Ost, 2005. - 447 S. : Ill.
ISBN 3-360-01064-7

Tipp 2: Fisch, Bernhard
Die Striche des Josef W. Stalin : vom Anteil der Kommunisten an der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa / Bernhard Fisch. - 1. Aufl. - Berlin : Trafo-Verl., 2005. - 449 S. - Literaturverz. S. 346 - 360.
ISBN 3-89626-218-1

Tipp 3: Nanzka, Martin
Spionage der ehemaligen DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland : verfassungsrechtliche Grenzen der Strafverfolgung wegen Landesverrates, geheimdienstlicher Agententätigkeit und damit in Zusammenhang stehender Straftaten nach der Herstellung der Einheit Deutschlands / Martin Nanzka. - Frankfurt am Main [u.a.] : Lang, 2000. - XII, 247 S. ; 21 cm. - Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999.
ISBN 3-631-35553-X